Ein paar Träume

Heute wäre mein Schwager Leo 60 Jahre alt geworden. Heute vor 17 Jahren, vor seinem Geburtstagsfest zum 43., schaute er aus dem Fenster und fiel um. Herzinfarkt. Am 29. Oktober träumte ich von ihm, so intensiv wie nie zuvor. Er kam herein, lächelte, ich gab ihm die Hand (Wahnsinn! dachte ich), und dann setzte er sich. Er sah gut aus und wirkte jung.

Ich habe ein Büchlein in der Nähe meines Bettes, in das ich am Morgen meine Träume notiere. Es ärgert mich, wenn ich zwei, drei Tage nichts aufzuschreiben habe, weil alles chaotisch war oder blitzschnell in einem Nebel verschwand.

Am 9. November träumte ich, dass ich zu Fuß nach Landsberg unterwegs war, wo ja meine Mutter gelebt hat und eine Reihe Verwandte noch leben. Da war eine Kurve, ein Felsvorsprung davor, und in der Ferne konnte ich einen Turm sehen, vermutlich den legendären Mutterturm. Und mein Cousin Reinhard stand an der Biegung.

Später denkt man sich: Das war völlig klar. Denn am Abend des Tages war da eine Mail von Reinhard, der mich für den 14. Januar 2017 zu seinem Geburtstagsfest einlud: sein 50. (Vor zehn Jahren hatten wir gemeinsam gefeiert, er wurde 40 und ich 50.) Ich wusste, dass er mich einladen würde, und ich hätte auch wissen müssen, dass mein Traum ein präkognitiver war, in die Zukunft gerichtet.

Bei Giovanna Braghetti war es nicht so klar. Sie hatte aber auch eine Art präkognitiven Traum. Als durch Erdstöße ihr Geburtsort Camerino in den Marken stark gelitten und ihre Mutter bereits ihre Wohnung verlassen hatte, war sie verständlicherweise alarmiert. Eines Sonntagmorgens träumte ihr in Zürich, sie stünde vor einem See, und ihr Vater (ziemlich genau vor zwei Jahren verstorben) tanzte mit einer Frau. Sie tanzten vor einem Zaun, oberhalb der Böschung, und sie rief erschreckt, sie sollten doch aufpassen!

Sie selber hat den Traum als »Tanz am Abgrund« gedeutet und sich verblüfft gezeigt, wie deutlich das Bild war, das ihr Unbewusstes für diese Metapher fand. Und tatsächlich kam es eine Stunde nach ihrem Traum zu einem noch stärkeren Beben (der Stärke 6,5 auf der Richter-Skala).

Einen anderen, eindrücklichen Traum fand ich kürzlich in dem Buch La ciociara von Alberto Moravia (1907-1990), das 1957 erschien. Cesira, eine Geschäftsfrau aus Rom, war 1943, vor Kriegsende, fast ein Jahr als Flüchtling in den Bergen südlich der Hauptstadt unterwegs, mit ihrer Tochter Rosetta, die gegen Ende von marokkanischen Soldaten vergewaltigt wird. Cesira ist verzweifelt und denkt auch an Michele, einen jungen Studenten, der ihr wie zum Sohn wurde und den deutsche Soldaten erschossen.

Plötzlich will sie nicht mehr leben und sucht einen Platz, um sich zu erhängen. Sie hat den Strick schon in der Hand, da öffnet sich eine Tür, und Michele erscheint. »Nein, tu’s nicht, das nicht, das darfst du nicht tun.« Er spricht weiter, aber sie hört ihn nicht mehr. Dann wacht sie auf und begreift, dass alles ein Traum war. Schade, dass Moravia hier kleinmütig war und die Episode zum Traum erklärte. Denn es gibt tatsächlich Erscheinungen von Verstorbenen, die einen von einer Verzweiflungstat abhalten.

Er; Michele, habe ihr, Cesira, wohl in kurzen Zügen den Sinn des Lebens erläutert, der für die Toten wohl sonnenklar sei. Sie aber verstand es nicht, und so ist das in Träumen: Das Entscheidende entgleitet einem; man weiß zwar, dass da etwas Schönes und Wichtiges war, doch es liegt wie hinter Schleiern. Zum Verrücktwerden! Doch es war, und etwas in uns hat es verstanden.

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