Solaris

Ein Druckfehler oder ein Verschreiber kann witzig sein und kreativ wirken. Der Zufall und der Unfall haben schon oft zu Entdeckungen (oder Enttarnungen – durch den »Kommissar Zufall«) geführt. Überhaupt wird die Evolution erst durch die Kontingenz (durch das Irgendwie, das Zu-fällige) auf eine neue Ebene gehoben.

Der Meister hat einen Plan und führt ihn aus, ist aber meisterhaft genug, von ihm abzuweichen, wenn es ihm geboten erscheint. Er weiß, dass die Welt und die Kunst sich der Kontrolle entziehen; wer seinen »Stiefel durchziehen« will, ist nicht souverän genug. Die Surrealisten im Paris der 1920-er Jahre haben sich immer dem Zufall geöffnet, der ihnen dann auch schöne neue Techniken schenkte. Ein Beispiel aus dem Buch Die Unordnung der Dinge, herausgegeben von Christian Kassung:

In einer Dunkelkammer in Paris wollten Man Ray und seine Partnerin Lee Miller Negative entwickeln. »Irgendwas krabbelte mir in der Dunkelkammer über den Fuß, und ich stieß einen Schrei aus und knipste das Licht an«, erzählte Lee. Damit war der Film belichtet, alles vergebens. Man Ray legte die Filme ins Fixierbad, und sah bald, dass die unbelichteten Teile des Negativs belichtet worden und mit einer Korona versehen worden waren. Sah toll aus. »Diese ganze zufällige Erscheinung war mein Werk«, erkannte Lee Miller, und man nannte den Effekt Solarisation. (Der Artikel im Buch heißt Katastrophen und ihre Bilder und stammt von Bernd Stiegler.)

Zufällige Auswahl: Der Autor vor Jahren in Offenbach. Jeder kann mit Adobe Photoshop über Stilisierung/Solarisation jedes Foto mit einer Aura versehen

Zufällige Auswahl: Der Autor vor Jahren in Offenbach. Jeder kann mit Adobe Photoshop über Stilisierung/Solarisation jedes Foto mit einer Aura versehen

La révélation dans le révélateur: die Offenbarung im Entwicklerbad. (Französische Ausdrücke für technisches Gerät sind anders, sind poetisch.) Zwar war der Effekt seit zehn Jahren bekannt, aber erst der Amerikaner Man Ray (1890-1976) brachte die Solarisations-Aura zu Ehren. Damals hatte Walter Benjamin schon über die Aura des Kunstwerks geschrieben, die durch die Reproduktion des Werks verlustig ginge, und es sollte noch weitere zehn Jahre dauern, bis der Russe Valentin Kirlian eine Art Aura um Blätter, Finger und andere Bestandteile von Lebewesen fotografieren konnte.

Alles, was lebt, pulsiert elektromagnetisch und sendet Strahlung aus. Ray heißt auch Strahl (lateinisch: radio). Man Ray: der Mann und der Strahl. Mit seiner Solarisation konnte die statische Fotografie das Leben darstellen und sein Atmen und Pulsieren. Das ist nicht wenig; die Wissenschaft begnügte sich, nachdem sie den Vitalismus zum Schweigen gebracht hatte, damit, alle möglichen Randerscheinungen zu dokumentieren, aber was Leben genau ist, auf diese Frage blieb sie uns eine Antwort schuldig.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.