Das vollständig Gute

Nach langer Zeit  kommt hier wieder ein Auszug aus Krishnamurtis Buch Commentaries on Living, da wir von der Natur bezaubert waren: vom Rauhreif auf den Zweigen und der Sonne darauf. Ich denke es und spreche es aus, aber, so lehrt der Meister, Aufmerksamkeit ist das noch nicht.

»Zwei Männer waren damit beschäftigt, ein langes enges Grab zu schaufeln. Es war ein feiner, sandiger Boden ohne zuviel Lehm, und das Graben war leicht. Jetzt arbeiteten sie an den Ecken und machten ringsherum alles ordentlich. Einige Palmen hingen über das Grab, und sie trugen große Bündel aus goldenen Kokosnüssen. Die Männer hatten nur Lendentücher an, und ihre nackten Körper leuchteten in der frühen Morgensonne. Die leichte Erdkrume war immer noch feucht vom kürzlichen Regen, und die Blätter der Bäume, von einer sanften Brise bewegt, glitzerten in der klaren Morgenluft. Es war ein schöner Tag, und da die Sonne erst über die Baumspitzen gestiegen war, machte sich noch keine Hitze bemerkbar. Das Meer war von blassem Blau und sehr ruhig, und die weißen Wellen kamen müde herein. Nicht eine einzige Wolke war am Himmel, und der abnehmende Mond stand in der Mitte. Das Gras war sehr grün, und die Vögel waren überall und riefen einander mit unterschiedlichen Tönen. Großer Friede lag über dem Land.

Über den schmalen Graben legten die Männer zwei lange Planken, und quer draüber einen soliden Strick. Ihre hellen Lendentücher und dunklen sonnenverbrannten Körper hatten dem leeren Grab Leben gegeben; aber nun waren sie fort, und die Erde trocknete rasch unter der Sonne. Es war ein recht großer Friedhof, ohne viel Ordnung, aber gut gepflegt. Die Reihen weißer Platten mit den auf ihnen aufgetragenen Namen waren durch viele Regenfälle entfärbt.

Zwei Gärtner arbeiteten den ganzen Tag und gossen, schnitten, pflanzten und jäteten. Einere war groß, der andere klein und plump. Auch sie trugen außer einem Tuch auf dem Kopf gegen die brennende Sonne nur Lendentücher, und ihre Haut war fast schwarz. Sogar an Regentagen war das erdbeschmierte Tuch um ihre Lenden, und der Regen wusch ihre dunklen Körper. Der Große begoss nun einen blühenden Busch, den er soeben gepflanzt hatte. Aus einem großen, runden irdenen Topf mit schmalem Hals sprenkelte er Wasser über die Blätter und Blüten. Der Topf glitzerte an der Sonne, als sich die Musikeln in seinem duunklen Körper mit Leichtigkeit bewegten, und so wie er da stand, hatte es Anmut und Würde. Es war schön anzusehen. Die Schatten waren lang in der Morgensonne.«

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»Aufmerksamkeit ist eine seltsame Sache. Wir schauen immer nur durch einen Vorhang aus Worten, Erklärungen und Vorurteilen; wir hören nie zu – nur durch Urteile, Vergleiche und Erinnerungen. Allein das Nennen der Blume oder des Vogels ist eine Ablenkung. Der Geist ist nie still, um zu schauen und zuzuhören. In dem Augenblick, in dem er schaut, ist er unterwegs zu rastlosen Wanderungen; und in dem Zuhören allein ist Interpretation, Wiedererinnerung, Freude, und die Aufmerksamkeit wird verweigert. Der Geist mag durch das Ding, das er sieht oder dem es zuhört, absorbiert sein wie ein Wind durch sein Spielzeug, aber das ist noch nicht Aufmerksamkeit. Auch Konzentration ist nicht Aufmerksamkeit, denn Konzentration ist der Weg des Ausschlusses und des Widerstands. Aufmerksamkeit gibt es nur, wenn der Geist nicht durch eine innere oder äußere Idee oder einen solchen Gegenstand absorbiert ist. Aufmerksamkeit ist das vollständig Gute.«

Auch wenn’s nicht richtig dazu passt, ein kleines Erlebnis von gestern: Ich war mit dem Zug nach Freiburg gefahren, sperrte meine Sachen in einen Schrank der Universitätsbibliothek ein, und später … fehlten meine Handschuhe. Sie hatten nicht viel Wert, ich hatte sie wohl im Zug liegengelassen. Na gut, dachte ich mir, kaufst du dir im Ausverkauf eben schnell ein billiges Paar. Ich gehe um die Universitätsbibliothek herum — und da liegt ein schwarzer Handschuh auf der Straße. Ich dachte nicht lange nach und nahm ihn an mich, da ich mich erinnerte, zu Hause so einen schwarzen Handschuh zu haben, dessen zweiten ich vermisste. Nun war ich begreiflicherweise gespannt … kam heim, und: Der neue war das passende Stück, die beiden gehörten nun zueinander. Ich hatte mir nichts gedacht, war gelassen geblieben – und wurde beschenkt.  

Weitere Beiträge mit Auszügen von Krishnamurtis Buch Commentaries on Living:
Weltabkehr; Die Frau mit dem Korb; Abend vor der Stadt; Der Segen; Früh am Morgen; Einsamkeit; Vom Suchen und Finden; Der Papagei; Flugverkehr (13): totales Sein; Lichter im Fluss.

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