Im Bodensee

Lindau im Bodensee, heißt es korrekt, weil es aus zwei Teilen besteht: der Insel und dem Stadtgebiet auf dem »Festland«, wo – im Stadtteil Reutin – am 20. Januar vor 90 Jahren mein Vater geboren wurde. Das nehmen wir zum Anlass für einen kleinen Beitrag.

Drei Mal habe ich, wenn Lindau zur Sprache kam, dasselbe Bild verwendet; darum heute ein paar andere. Symbolkräftig ist ja der Leuchtturm und der bayerische Löwe: die Hafeneinfahrt.

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Vor vier Jahren schrieb ich schon einmal an einem 20. Januar und gab meine Übersetzung des Gedichts Lindau von Eugenio Montale zum Besten. Kann man hier nachlesen. Dieses Mal aber das Original, und ich zitiere diesmal einfach aus einem 2010 verfassten, unveröffentlichten Roman von mir, der in einem Jahr erscheinen könnte und in der Schweiz spielt. Ist als Abschluss und vierter Band der Rom-Reihe gedacht, Rudi (meines Großvaters wird hier gedacht) hat Cherry wiedergetroffen.

Sie haben die Beleuchtung ausgeschaltet. Der Leuchtturm ist nun ein dunkler Finger, der sich mahnend gen Himmel reckt. »Diese Deutschen! Those Germans! Immer pünktlich!« Wir gehen die restlichen Schritte und umarmen uns. »So glad to have you here!« flüstert sie mir ins Ohr. Es ist dunkel, aber der eingedellte Mond spendet genug Licht. Wir gehen zum Leuchtturm und setzen uns auf die drei Stufen, die zum – allerdings verbarrikadierten – Eingang führen. »Romantischer Ort«, sagt sie und zieht eine kleine Flasche aus der Manteltasche. Whisky. Damit uns warm bleibe, meint sie. Wir erzählen uns rasch, was wir in den letzten beiden Tagen gemacht haben. Cherry habe noch jemanden getroffen und habe ein Zimmer im letzten Hotel da hinten, rechts. Jeder nimmt einen Schluck.

Ich sage: »Ich muss dir ein Gedicht rezitieren. Eines der schönsten. Von Eugenio Montale, Nobelpreisträger neunzehnhundertfünfundsiebzig. Hör zu: ›Lindau. ―- La rondine vi porta / fili d’erba, non vuole che la vita passi. / Ma tra gli argini, a notte, l’acqua morta / logora i sassi. / Sotto le torce fumicose sbanda / sempre qualche ombra sulle prode vuote. / Nel cerchio della piazza una sarabanda / s’agita al mugghio dei battelli a ruote.‹ Dieser Rhythmus! Sot-to le tor-ce fu-mi-co-se sban-da …«

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Vor zwei oder drei Jahren fuhr ich mit dem Zug exakt am 20. Januar in Lindau ein. Ich hatte das so gewollt, wegen des Geburtstags meines Vaters und um weiterzufahren nach Landsberg am Lech, wo mich meine Mutter erwartete. Der Zug stand am Bahnhof, und ich kam mit einem Zirkusartisten ins Gespräch, der an einem Festival teilgenommen hatte und nun zumFlughafen musste. Er soll hier anonym bleiben, denn er hatte, wie er mir mit leiser Stimme verriet, ein Problem: Freunde hätten ihm einen Joint mitgegeben, aber nun habe er keine Zeit mehr, wegwerfen wolle er den Stoff auch nicht, am Flughafen gibt’s Probleme … ob ich nicht Interesse hätte … Hatte ich. Klar. Ich steckte die Zigarette ein und rauchte sie gegen Mitternacht gemütlich in der Wohnung meiner Mutter und grüßte meinen Vater damit, denn ich hielt es sozusagen für ein Geschenk von ihm an mich persönlich, an seinem Geburtstag. War ja auch nett von ihm.

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Lindau ist im Inneren sehr proper, hat viele Touristen, aber am Hafen hat es seinen Charme behalten. Da gibt es nich ein altes Café und eine heruntergekommene Beiz. Ich schätze es immer mehr, wenn etwas nicht renoviert ist, weil viele Orte danach nur Zombies und Untoten anziehen. Die Leute spüren ja den Druck, der von der Gesellschaft ausgeht, die modern sein will, und das Ergebnis ist immer Standard, so seelen- und geschmacklos, wie die modernen Leute nun mal sind. Auf Vordermann bringen müsste man etwas, sagte mein Vater gern, das war ein alter Ausdruck: Richt euch! Wie beim Militär. Tanzt nicht aus der Reihe.

Es gibt ja auch eine Poesie des Dekadenten und Verfallenen – in der Romantik stellten sich Adelige gern Ruinen in ihre Parks. Das heißt dann gern pittoresk oder malerisch, weil der Tourist das Echte, Authentische sucht. Schon die Erwähnung des Authentischen zeigt, dass jemand vom Unauthentischen ausgeht, und so wie man nicht ohne Not von Gott sprechen sollte, so sollte man auch nicht irgend etwas als echt benennen und es bloß dafür adeln, weil es ist, was es ist.

 

 

 

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