Perspektive

Jean Charon (1920-1998) war ein französischer Physiker, der wie manche seiner Kollegen zur Metaphysik überwechselte: Geist und Materie, Sinn der Schöpfung das Leben an sich. 1965 veröffentlichte er das ambitionierte Buch L’Être et le verbe (Das Sein und das Wort), und sein ergreifendes Nachwort gebe ich hier wieder.

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Hinter meinem Fenster geht der Tag langsam davon. Ohne mein Büro zu verlassen, nehme ich wahr, wie der große, ruhige und schweigende Park sich allmählich auslöscht; eine ganz sanfte Gitarrenmusik dringt aus meinem Radioempfänger. Ich beende dieses Buch mit einer heiteren und hoffnungsvollen Note.
Und dennoch! … Und dennoch weiß ich, dass man morgen den Kontakt mit den Realitäten der Existenz wieder aufnehmen muss. Ich weiß, dass diese Existenz selten Freude ist, sondern häufiger noch Angst und Leiden; oder auch Leidenschaft, Gewalt, Egoismus. Ich weiß, dass während ich schreibe, Kindern an Entbehrungen und Krankheit leiden und weinen, Menschen verhungern, andere Ungerechtigkeiten ertragen müssen und wieder andere vergebens auf die Freiheit hoffen. Ich weiß, dass während ich hier von der Einheit der Menschheit träume, die Wirklichkeit mir wie ein verzerrtes Echo das Bild einer eingeschlossenen Welt zurückwirft. Ich weiß, dass während ich über die Erkenntnis doziere, die große Mehrheit meiner Mitbrüder und –schwestern auf diesem Planeten noch in Unwissenheit lebt.
Das alles weiß ich.
Aber ich weiß auch, dass die Welt schön ist. Ich spüre, dass die Welt schön ist, ich spüre, dass es in diesem Leben eine Perspektive geben muss, die es jedem erlauben könnte, freudig seinem weniger glücklichen Nächsten dabei zu helfen, selbst auch ein wenig von den Freuden dieser Welt in sich aufzunehmen. Eine Perspektive, in der das nicht ein Trugbild wäre, sondern eine gelebte Wahrheit. Ich sehe mich unfähig, an etwas anderes zu glauben.
Draußen ist nun tatsächlich die Nacht angebrochen. Die Gitarre hat der ersten Symphonie von Schumann Platz gemacht.
(
Orsay, April 1964-Januar 1965)

Illustrationen: oben Zürich, unten Bern.

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