Die deutschen Nihilisten

Wir hatten es mit Schwerin, der Hauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns. Da las ich im Dom auf einer Wandtafel, wie bereits einmal erwähnt, dass von den knapp 100000 Einwohnern nur 13 Prozent dem christlichen Glauben angehören. Als ich vor der Weiterfahrt in der Bahnhofshalle stand, fiel mein Blick auf ein Buch in einer Schnäppchen-Kiste.

Das Buch kostete 2,99 Euro und hieß Christentum: Geschichte, Lehre, Glaube, Weltbild.  Es war im Jahr 2009 vom Parragon-Verlag in Bath (England) herausgegeben worden (»printed in Indonesia«), und auf dem Umschlag sah man ein Bild des Papstes, des Chefs der katholischen Fraktion dieser für Schwerin fremden Weltreligion.  

In Leipzig sollen die Leute ja, wenn man sie nach ihrem Glaubensbekenntnis fragt, antworten: »normal«. Das heißt, dass sie keinen Glauben haben. Sie ärgern sich sogar darüber, wenn Christen Weihnachtslieder singen. Dann schimpfen sie, die Christen wollten sich »Weihnachten unter den Nagel reißen«. Seltsame Geschichten für einen Süddeutschen. 

Erzählt hat das, wie ein kirchliches Blatt aus dem Schweizer Dekanat Birstal im August schrieb, Andreas Knapp beim ersten Basler Forum für Grenzgänger. Knapp lebt mit drei Männern der Ordensgemeinschaft der Kleinen Brüder vom Evangelium in einer »normalen« Wohnung in Leipzig. Sie richten sich nach dem Mönch Charles de Foucauld (1858–1916), der ein Leben inmitten der Menschen empfahl, um durch das Beispiel zu wirken, ohne missionarisch zu sein. Andreas Knapp arbeitet auch: in einer Joghurtfabrik.  

Als Hintergrund hierzu stieß ich auf einen Blogartikel des Parapsychologen Michael Tymn, der nicht in Leipzig lebt, sondern auf Hawaii. Er las das Buch Nihilism: The Root of the Revolution of the Modern Age des Philosophen Eugene Rose (1930−1982), das 1994 erschien. Rose hält die Begriffe auseinander und glaubt zum Beispiel nicht, dass es echte Atheisten gibt. Der existenzielle Atheist ist über die ungerechte Welt empört, sucht aber eigentlich Gott; man solle ihn besser Antitheist nennen, meint Rose. Der Nihilist glaubt an nichts oder besser: an keine absoluten Werte. 

Illustration: Rolf Hannes

 Bei Rose gibt es vier Stufen der nihilistischen Dialektik: den Liberalismus, für deren Vertreter Gott allenfalls als vage Kraft existiert, während sie selber ganz den weltlichen Dingen zugewandt sind; den Realismus, zu dem auch Naturalismus und Positivismus gehören und der gleichfalls das Absolute ablehnt, jedoch fanatisch andere Werte vertritt: die Wissenschaft, den Staat, die Freiheit; den Vitalismus, den Eugene Rose »pseudospirituelle Anmaßung« nennt, da ein Ersatz für Gott gesucht werde, um das Leben wiederzubeleben: Zen-Buddhisten und Esoteriker gehören dazu. 

Die letzte Stufe wäre der Nihilimus der Zerstörung, der eine Maschinenwelt ohne Werte anstrebt, eine gnadenlose völlige Verweltlichung, in deren Kosmos der Bewohner »nur« seine Rechte einfordert und erwartet, alles auf dem silbernen Teller serviert zu bekommen. Das könne nur in der Tyrannei enden. Michael Tymn meint, dass die »Nones« (so nennen die Umfrageinstitute die an nichts Glaubenden) in den USA bis zu 20 Prozent ausmachen.  

In Süddeutschland ist der Kirchenbesuch auch rapide zurückgegangen. Vermutlich sind die, die ihren Glauben leben, auch nur 13 Prozent, wie die Christen in Schwerin. Anfang Oktober hatte die FAZ einen Artikel über die Altmark, die in der DDR als besonders fromm galt. Nach der Wende hätten sich die Kirchen plötzlich geleert, erzählte der Pfarrer. Einer macht dann als Letzter das Licht aus.  

Der Titel zu diesem Beitrag fiel mir zwischendurch ein. Da gab es doch im Film The Big Lebowski (1998) von den Gebrüdern Coen, von denen ich im August einen Film besprach, die »deutschen Nihilisten«, vier schwarz gekleidete schlanke und dumme Männer, die ein Mädchen entführen und ihr einen Zeh abschneiden. Nietzsches Spruch »Gott ist tot« kennt man ja weltweit.         

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