Flugverkehr (67): die drei Vogelfrauen aus Caesarea

Die Erzählerin in dem Buch Frau ohne Begräbnis von Assia Djebar beschreibt ein Mosaik, ein zweitausend Jahre altes Fresko: »Drei Frauen, oder vielmehr drei Vogel-Frauen, ja! … Frauen aus Caesarea! Mit langen Vogelfüßen, die bereit sind, davonzufliegen, übers Meer …«

Mina, die Freundin, kennt das Mosaik. Es sei in den 1930er Jahren entdeckt worden: Odysseus und die Sirenen. In Homers Odyssee singen sie:

Komm, preisvoller Odysseus, du großer Ruhm der Achäer,
Lenke dein Schiff ans Land und horche unserer Stimme.
Denn hier fuhr noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber,
Eh‘ er dem süßen Gesang gelauscht aus unserem Munde,
Dann aber scheidet er wieder, beglückt, und weiß um ein Neues,
Denn wir wissen alles, was je im Felde von Troja
Die Achäer und Troer vom Rat der Götter geduldet,
Wissen, was irgend geschieht auf der vielernährenden Erde!
(Odyssee, Zwölfter Gesang, Vers 184-191, Homer)

Auf der Seite Das Mythentor heißt es: »Auf ihrer weiteren Reise mussten sie an der Insel der Sirenen vorbei. Dort lebten Nymphen, halb Vogel, halb Mensch, die mit ihrem Gesang jeden Vorbeifahrenden verzauberten. Wer sich einmal durch den lieblichen Gesang zu ihnen herüberlocken ließ, der war verloren und musste sterben. Kirke hatte sie davor gewarnt. Daher verklebte Odysseus seinen Gefährten mit Wachs die Ohren, sobald sie sich der Insel näherten. Ihn selbst jedoch trieb die Neugierde, das Lied der Sirenen zu hören. Und so ließ er sich an den Mastbaum binden und befahl ihnen, egal wie er auch bitten und flehen möge, ihn nicht eher zu befreien, bis sie an der Insel vorbeigesegelt wären.«

Die Frauen, die sich in dem algerischen Ort unterhalten, beziehen die Geschichte auf ihre Situation. Mina ruft aus: »Es ist eine Verführungsszene, aus der Odysseus, der Held, als Sieger hervorgehen soll! Er will seine Reise auf jeden Fall fortsetzen, aber er wünscht sich genauso sehr, den Gesang der Sirenen zu hören, er möchte als Einziger den verführerischen Gesang genießen … Diese Vogel-Frauen aus Caesarea haben mich verfolgt: Werden sie das vorbeifahrende Schiff zu sich herlocken können? Wenn die Männer den Gesang hören, sehen sie nicht mehr, dass das Ufer gefährlich ist. Doch das Mosaik vergegenwärtigt nicht die Todesgefahr. Nein, die Szene scheint völlig vom Zauber der Musik eingehüllt. Die Frauen haben etwas in der Hand, eine Doppelflöte die eine, die andere eine Leier. Musikerinnen, die bereit sind … davonzufliegen, glaube ich!«

Sanbashi no onna, Holzschnitt von Kuniyoshi Utagawa (1798-1861). Dank an: Library of Congress, Wash. D. C.

Sanbashi no onna, Holzschnitt von Kuniyoshi Utagawa (1798-1861). Dank an: Library of Congress, Wash. D. C.

Die Erzählerin erklärt: »Sie werden davonfliegen, ganz bestimmt, die Frauen dieser Stadt, mit ihrem Gesang und ihrer Leichtigkeit! Jedoch (ich lasse meine Trauer laut werden): Seit 1962 hat sich hier wieder die Betäubung ausgebreitet und auf alles gelegt. Man spürt sie in den Straßen, den Innenhöfen. Nicht aber dort oben weder in den Bergen noch auf den davor liegenden Hügeln … Eine einzige Fau ist wirklich davongeflogen, und das ist dein Mutter, Mina, es ist Zoulikha.«

Zoulikha ist die Frau ohne Begräbnis. Sie hat sich, obgleich Mutter, im Widerstand gegen die französischen Besatzer engagiert, floh in die Berge, wurde von der Kolonialarmee gefasst, gefoltert … und verschwand spurlos. Eine mutige Frau, die bereit war, davonzufliegen.

Die Algerierin Assia Djebar (1936-2015) hat sich immer den unterdrückten Frauen des Orients gewidmet. Im Jahr 2000 wurde ihr der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen.

(Assia Djebar, Frau ohne Begräbnis. Zürich: Unionsverlag 2004. S. 98-101)   

 

 

 

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