Nähe/Distanz

Ich hatte schon einmal darüber geschrieben, aber wo? Du fährst mit dem Rad, siehst ein Motiv, denkst dir: toll. Du nimmst die Kamera, fährst weiter, um näher ranzukommen – und plötzlich ist die Wirkung weg. Es gibt anscheinend einen idealen Punkt, den du erwischen musst.

Blaise Pascal (1623-1642) ist durch seine Pensées, die Gedanken berühmt geworden. Es sind lose Gedanken aus vielen Gebieten, die sich berühren und uns auch noch berühren. Ganz am Anfang meines Buches fand ich die Stelle 21/381:

Wenn man sein Werk betrachtet, gleich nachdem man es vollendet hat, ist man noch ganz davon ergriffen, wenn man es zu lange danach tut, erfasst man es nicht mehr. Wie bei den Bildern, die man aus zu großer oder zu kleiner Entfernung betrachtet. Und es gibt nur einen unteilbaren Punkt, der die richtige Stelle ist. Die übrigen sind zu nahe, zu fern, zu hoch oder zu niedrig. Die Perspektive bestimmt ihn in der Malkunst, wer aber bestimmt ihn bei der Wahrheit und bei der Moral?

Fern, zu fern

Fern, zu fern

Helmut ergänzte, es gebe für jedes Bild die ideale Größe, das wisse er vom Büchermachen. Wir dachten doch, etwas echt Objektives gäbe es nicht, und plötzlich suchen wir die ideale Stelle! Auch sie ist nicht berechenbar; man müsste sie intersubjektiv nennen: Viele Subjekte haben unabhängig voneinander den Eindruck, dass es jetzt stimmt. Auch Schönheit ist eine Übereinkunft, die man durch Mehrheitsentcheid festlegen könnte. Was genau sie ist, bleibt dunkel.

Und was ist wahr, was ist ethisch, fragt Pascal. Auch hier entscheidet unser Herz, unser eingebautes Gewissen. Nie wird es Klarheit darüber geben. Jeder muss hier sein eigener Richter sein.

Wir urteilen ja gern über Tagesereignisse; aber die Informationen kommen von den Medien, wir sind zu weit weg, wir sollten stille sein. Der Reporter weiß: Wenn du hingehst an den Tatort, wenn du dich näher mit der Materie beschäftigst, schließt sie sich auf und beginnt zu sprechen. Wenn du dich aber zu lange damit beschäftigst, bist du schon nicht mehr »objektiv«. Welche Nähe oder Distanz man (vor allem zu Partnern des anderen/selben Geschlechts) man einnimmt, bestimmt über ein Leben.

Früher haben Zeitungen und Nachrichtenagenturen ihre Korrespondenten nach spätestens fünf Jahren abgelöst. Man wusste, dass der Mann (oder die Frau) vor Ort sich entweder in das Land verlieben oder es hassen würde; in beiden Fällen leidet die Berichterstattung darunter.

Nah, ganz nah

Nah, ganz nah

Oder ein Drama in unserer Familie. Wir reagieren empört und impulsiv. Wenn wir erfahren, dass es das schon öfter gegeben hat, wenn ein Freund uns aus seiner Distanz seine Ansicht darüber verrät, werden wir nachdenklich. Deshalb ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit so lehrreich. Manche Dinge gibt es seit Jahrtausenden. Dass Leute geldgeil sind, beklagte Horaz schon vor 200 Jahren, und Nietzsche schrieb 1888, es gebe einfach zu viele Bücher.

Über unsere Gegenwart können wir erst hinterher urteilen. Wir stecken heute noch zu tief drin. So ist es denn auch mit Bildwirkungen. So ein Mittendrin ist gerade richtig; die griechische Antike war immer fürs Maßhalten. Die richtige Mitte finden  für sich und bei der Betrachtung der Dinge, das ist eine große Aufgabe.

Noch ein Zitat, von dem chilenischen Filmregisseur Alejandro Jodorowsky: »Die Magie, die wir heraufbeschworen haben, funktioniert nur durch die Distanzierung. Je mehr man distanziert ist, desto eher kann man die ganze Existenz als einen großen Spielplatz begreifen.« Distanzierung erfährt man zum Beispiel im Humor; man nimmt sich selbst nicht ernst, steht über den Dingen.

 

 

 

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