Gevatter Tod

In meinen Märchen der Gebrüder Grimm von 1937 (Relikt der Großeltern) fand ich das gesuchte Stück: Gevatter Tod. Das ist passend für den Totenmonat November, sagt aber auch etwas über das Arzttum aus und über Verträge.

Früher brauchte man für die Taufe einen Bürgen und Zeugen, den Gevatter (altes Wort für Vetter/Cousin), der heute Taufpate heißt. Ein armer Mann hatte schon zwölf Kinder, da kam das dreizehnte. (Die Zahlensymbolik: Was über 12 hinausgeht, verrät Übles.) Der Mann war so arm und brauchte einen Gevatter, da kam Gott, den lehnte er ab, weil er Reiche reicher und Arme arm macht; den Teufel wollte er auch nicht, weil der betrügt und verführt; dann kam der Tod, und der war recht, denn der macht alle gleich.

Illustration aus meinem Knaur-Buch, Berlin, 1937: von Ruth Koser-Michaels

Illustration aus meinem Knaur-Buch, Berlin, 1937: von Ruth Koser-Michaels

Als der Junge herangewachsen war, besuchte ihn der Pate, nahm ihn mit in den Wald und gab ihm ein Kräutlein: sein Patengeschenk. Der Tod sagte: »Ich mache dich zu einem berühmten Arzt. Wenn du zu einem Kranken gerufen wirst, so will ich dir jedesmal erscheinen. Steht ich zu Häupten des Kranken, so kannst du keck sprechen, du wolltest ihn wieder gesund machen, und gibst du ihm dann von jenem Kraut ein, so wird er genesen.« Stehe er aber zu Füßen des Kranken, müsse er sagen, nichts könne mehr helfen.

Der Jüngling war bald der berühmteste Arzt. Man überschüttet ihn mit Gold. Er wurde reich. Da jedoch wurde der König krank, und der Tod stand zu dessen Füßen. Der junge Arzt wollte es riskieren, den Tod hereinzulegen und drehte das Bett des Kranken herum. Das Kräutlein heilte ihn. Der Tod stellte ihn hernach zur Rede und drohte ihm: Das müsse eine Ausnahme gewesen sein. Er wolle noch einmal ein Auge zudrücken.

Bald hernach verfiel die Tochter des Königs in eine schwere Krankheit. Sie war wunderschön, ihr Retter würde ihr Gemahl werden und den Thron erben. O Herr! Der Arzt war betört. Er sah nicht die zornigen Blicke des Todes. Kaum hatte er die schöne Königstochter errettet, trat der Tod auf ihn zu und rief: »Es ist aus mit dir!« Mit seiner eiskalten Hand führte er ihn in eine unterirdische Höhle.

»Da sah er, wie tausend und tausend Lichter in unübersehbaren Reihen brannten, einige groß, andere halbgroß, andere klein. Jeden Augenblick verloschen einige, und andere brannten wieder auf, also dass die Flmmchen in beständigem Wechsel hin und her zu hüpfen schienen.« Das seien die Lebenslichter der Menschen. Der Arzt wollte das seine sehen. Oh, es war klein! Dabei wollte er doch die Königstochter lieben und König sein. Bitte, flehte er, steck ein großes drauf, lieber Pate!

»Der Tod stellte sich, als ob er seinen Wunsch erfüllen wollte, langte ein frisches großes Licht herbei: aber weil er sich rächen wollte, versah er’s beim Umstecken absichtlich, und das Stückchen fiel um und verlosch. Alsbald sank der Arzt zu Boden und war nun selbst in die Hand des Todes geraten.«

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In irgendeinem medizinischen Buch fand ich dieses Märchen schon einmal erwähnt. Der Arzt soll nicht eigensüchtig sein, er soll seine Begierden nach Geld und Liebe zügeln. Er solle die Natur walten lassen und ihr nicht ins Handwerk pfuschen. Man spürt, wenn alle Mühe vergebens ist. Es soll nicht sein. Aber wer viel kann, tut auch viel, und so kann es sein, dass man des Guten zuviel tut. Menschen liegen 20 Jahre im Wachkoma. Andere werden gerettet, aber zum Preis einer lebenslangen Behinderung. Bei uralten Menschen setzt man zur Wiederbelebung an.

Hippokrates sagte: Was die Arzneimittel nicht heilen, heilet das Messer; was das Messer nicht heilet, heilet das Feuer; und was das Feuer nicht heilet, das halte man für unheilbar. Was er unter Feuer versteht, versteht man zwar nicht (heute wäre es die Bestrahlung). Aber man versteht seinen Punkt.

 

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