Perversion

Ich habe mir das Buch Perversion von Robert J. Stoller ausgeliehen, das 1979 auf Deutsch erschienen ist. In den 1970-er Jahren war man mutig, und sein Autor – er war Professor für Psychiatrie – wurde für sein Werk angefeindet.

Der Untertitel lautet die erotische Form von Hass, könnte aber genausogut heißen die hässliche Form von Erotik. Stoller, der von 1925 bis 1991 lebte, hielt fest, Perversion entstehe aus dem Versuch heraus, Bedrohungen der Geschlechtsidentität, also des Bewusstwerdens von Männlichkeit und Weiblichkeit, abzuwehren. Er schreibt:

Durch die Perversion wird die Wut in einen Sieg über jene verwandelt, die ihn unglücklich machten, denn in der Perversion wird ein Trauma zum Triumph.  

Unter perversen Praktiken versteht er Fetischismus, Nekrophilie, Sexualmord, Sadismus, Masochismus, Pädophilie und Notzucht, und er verbreitet sich auch über Pornografie. Perversion habe ihren Ursprung vor allem in Feindseligkeit.

Die Perversion ist ein weitere Meisterwerk der menschlichen Erfindungsgabe. (…) In der nun verfügbaren sexuellen Erregung weiß man unterschwellig, dass der Sexualwunsch Belohnung und Strafe nach sich zieht. Und so gelangt man im Zustand der Erregung zwischen dem Vorgefühl der Gefahr und der Erwartung, ihr zu entfliehen, zur sexuellen Befriedigung.  

Der Perverse selbst kann sich dem Erlebnis nicht voll hingeben. Er behält eine abgespaltene, losgelöste, manipulierende Kontrolle über die Situation.  

Das ist das Gegenteil von lustvoller Sexualität, in der sich der Mensch vergisst. Mich interessieren daran eher die gesellschaftlichen Aspekte. Robert Stoller hat beobachtet:

Es ist kein Zufall, dass zerstörerisvhe aggressive Menschen gewöhnlich bizarre Sexualimpulse oder schwere Konflikte im Hinblick auf Männlichkeit und Weiblichkeit haben.

Weiter:

 Da Feindseligkeit im Mittelpunkt ihrer Dynamik steht, kann Perversion beispielsweise mörderischen Hass in die ruhigeren Bahnen der Phantasie wie etwa Religion, Kunst, Pornografie und Tagträume lenken … Der Hang fanatischer Revolutionäre zu sexueller Abstinenz ist eine Perversion, die die Feindseligkeit innerhalb der Familie (Partei) aufbaut, indem sie sie zerstörerisch nach außen richtet.

Das ist eine wichtige Bemerkung. Den Kick, das Buch zu behandeln, gaben mir ein paar Sätze des Dalai Lama (in seinen Gesprächen mit Luise Rinser, die als Mitgefühl als Weg zum Frieden 1995 erschienen).

Man ist der Überzeugung, dass die Unterdrückung der Sexualität aggressiv macht. Jede Unterdrückung macht aggressiv und kriminell. Aber bleiben wir bei der sexuellen. Ist es aber nicht so, dass heute die Sexualität bis zu einem hohen Maß frei ist? Und ist dadurch die Kriminalität gesunken? Sie ist gewachsen ohne Rücksicht auf die Sexualität. Vielleicht ist nicht die Sexualität, sondern ihre Pervertierung schuld an der Zunahme der Gewalttaten.

Das passt ja zu Stollers These. Die Pervertierung von Sexualität findet man in Kriminalromanen und –filmen, in denen Grenzen überschritten werden; immer schlimmere Varianten perverser Sexualität werden ausgemalt und dem Publikum präsentiert, weil schon Sado-Maso langweilig ist. Man spürt diesen unterschwelligen Hass, den gewissenlose Schreiber ohne Not zelebrieren, um Auflage zu machen; es mag auch ein Reflex einer aggressiven Gesellschaft sein, heizt die Atmosphäre aber an, und irgendein Idiot findet sich immer, der seinen Wahn in die Tat umsetzt. Hier greift die Unterhaltungsindustrie ins Kriminelle über und wird zur Täterin.

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