Gesang der Geister über den Wassern

Nach Quinten am Walensee können wir hochsteigen zur Quelle des Rin, die 600 Meter tief hinabschießt in den Abgrund. Erst um 1900 wurde dieser Wasserfall genauer vermessen, Goethe kannte ihn nicht. Der Dichter gelangte jedoch 1779, als er 30 Jahre alt war, auf seiner zweiten SchweizReise nach Lauterbrunnen, und da beeindruckte ihn der Staubbach, der (nur) 300 Meter tief stürzt. Und er schrieb ein berühmt gewordenes Gedicht.

Das war der Gesang der Geister über den Wassern.

Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muss es,
Ewig wechselnd.

Strömt von der hohen,
Steilen Felswand
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich
In Wolkenwellen
Zum glatten Fels,
Und leicht empfangen,
Wallt er verschleiernd,
Leisrauschend
Zur Tiefe nieder.

041

Ragen Klippen
Dem Sturz entgegen,
Schäumt er unmutig
Stufenweise
Zum Abgrund.

042Im flachen Bette
Schleicht er das Wiesental hin,
Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne.

028

Wind ist der Welle
Lieblicher Buhler;
Wind mischt vom Grund aus
Schäumende Wogen.

Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!

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Dazu passt ein Werk von Friedrich Hölderlin (1770-1843), der immer als Gegenfigur zu Goethe aufgebaut wurde: Hier der gefeierte, begnadete, berechnende Olympier, der alles richtig (und auch Karriere) machte, dort der unglückselige Schwärmer, immer unglücklich verliebt, umhergeworfen, zuletzt verrückt geworden und in einem Turm in Tübingen hausend, den ich auch besucht und fotografiert habe. Ebenso berühmt wie Goethes Geister-Gesang ist Hölderlins

Schicksalslied

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener KnospeDSCN4760
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.

033Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahrlang ins Ungewisse hinab.

 

 

 

Der Meister hat damals (1799) etwas Ungesehenes getan: Er zeigte auch im Schriftbild das Geworfene, das Kippende, das Flüchtige, indem er die Zeilen jedes Verses immer weiter einrückte, damit auch die Zeilen fallen wie die leidenden Menschen, wie man hier sieht, und auch der Rhythmus (Daktylen) bildet den Inhalt nach. Erst die hitzigen Expressionisten ein Jahrhundert später haben dies versucht.

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