Eichmann in Jerusalem

Hannah Arendt, die bekannte Philosophin, studierte als 18-Jährige in Marburg und verliebte sich in den damals 35 Jahre alten Martin Heidegger. Ich wollte auch nach Marburg, um meine Nichte zu besuchen, und las darum endlich Arendts Buch Eichmann in Jerusalem, das, 1964 erstmals erschienen, auch eine gute Zusammenfassung für alle sein kann, die wenig über den millionenfachen Mord der Nazis an den Juden wissen.

Hannah Arendt begleitete den Prozess in Jerusalem für die Zeitschrift New Yorker. Am 11. April 1961 begann der Prozess, am 11. Dezember wurde das Todesurteil für Karl Adolf Eichmann verkündet und am 29. Mai 1962 bestätigt. Zwei Tage später wurde er in aller Eile aufgehängt und seine Asche übers Mittelmeer verstreut. Der Untertitel des Buches – Ein Bericht von der Banalität des Bösen – wurde sehr einflussreich und oft zitiert. Er weist auf die Essenz des Verfahrens hin: Eichmann, so zeigte sich, war weder böse noch fanatisch. Er war ein biederer, wenngleich besessener Bürokrat, der alles richtig machen wollte. Er organisierte die höllischen Eisenbahnfahrten und die Verladungen in ganz Europa, war aber dennoch ein kleines Licht.

Szenerie in Ostungarn, Herbst 2008

Szenerie in Ostungarn, Herbst 2008

Hannah Arendt attestiert ihm, er habe wenig Vorstellungskraft besessen und nicht gut denken können. Jeder Satz, den er aussprach, war voller Klischees. Er nahm seine Befehle wörtlich und verabscheute jede Ausnahme; er arbeitete und gab sein Bestes. Arendt schreibt:

Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, dass er war wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind. Vom Standpunkt unserer Rechtsinstitutionen und an unserern moralischen Urteilsmaßstäben gemessen, war diese Normalität viel erschreckender als all die Greuel zusammengenommen …

Im März 1941 gab Heydrich im kleinen Kreis bekannt: »Der Führer hat die physische Vernichtung der Juden befohlen.« Es gibt kein Dokument darüber. Der Führer sagte es, sein Wort hatte Gesetzeskraft, die Untergebenen schluckten und machten sich alsdann daran, seinen Befehl umzusetzen. Die Nazis waren so perfide, ihre Opfer in ihre Taten einzubinden. Sie bewegten jüdische Komitees und Verwaltungsstellen, beim Zusammentreiben der Juden zu helfen, was diese bereitwillig taten in der Hoffnung, dass man so das Schlimmste verhüten könnte, dass es weniger Opfer geben würde. Doch so wurde der Abtransport eine reibungslose Aktion.

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Liste von Toten durch die Nazi-Herrschaft, in einem Kloster bei Münzenberg

Ohne diese Mithilfe hätten sich viele Juden retten können, argumentierte Hannah Arendt, weshalb ihr Buch in Israel verboten wurde. Das wollte man nicht hören. Warum habt ihr euch nicht gewehrt? wurde zudem von vielen gefragt. Niemand will die Schuld der Henker verringern, aber die Frage muss gestellt werden. Auch die Passivität der Alliierten kam zur Sprache. Im Frühjahr 1943 wurden in einer Monsteraktion 500.000 ungarische Juden ins Gas geschickt. Man telegrtafierte in die Schweiz: Bombardiert die Gleise! Das geschah nicht. Die Juden hatten keine Chance.

Lebenslügen und Selbstbetrug … Die harten Nationalsozialisten meinten, die Juden seien überall unerwünscht und ihre radikalen Maßnahmen würden keinen stören. Eichmann beklagte sich beim Prozess heuchlerisch darüber, dass kein Land zur Aufnahme der Juen bereit gewesen sei; das habe erst die Katastrophe verursacht. Hannah Arendt wunderte sich nicht darüber:

Als ob die fest strukturierten europäischen Nationalstaaten anders reagiert hätten, wenn irgendeine andere Gruppe von Ausländern plötzlich in Scharen vor ihren Toren gestanden hätte – ohne Geld, ohne Papiere, ohne Kennntnisse der Landessprache!

Wir denken an den Spätsommer 2015, an die Flüchtlingsströme und an Angela Merkel, deren Beschluss, die Grenzen offenzuhalten, im Urteil der Geschichte positiv ausfallen muss, auch wenn sie von der Rechten dafür gegeißelt wurde. Man könnte noch vieles schreiben, nur eines noch: Nehmt euch ein Beispiel an Dänemark! So rät Hannah Arendt. Die Nazis propagierten »rücksichtslose Härte«, doch die Dänen ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie machten nicht mit und weigerten sich, ihre Juden auszuliefern. Und die Nazis gaben nach. Auch die Bulgaren blieben standhaft. Wenige Völker, wenige Menschen sind mutig im Angesicht der Gewalt, und gerade sie sind ein Ruhmesblatt für die Menschheit, sind die Gerechten.

 

 

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