Raum und Grenze

Komplizierte Systeme ziehen mich magisch an. Das ist so mit der Kabbala und auch mit dem tibetischen Buddhismus, der es uns vordergründig einfach macht, bevor er uns in die Verwirrung stützt. Was ist ein Mandala? Etwa ein schön gestalteter, ausgemalter Kreis, mit dem man meditiert? Weit gefehlt.

Über unsere Bergwanderung habe ich gesagt, wir seien von Viertausender umringt gewesen. Da habe ich dem Raum eine Grenze gesetzt, die aus meinem Denken kam. Eine Zuhörerin fragte Chögyam Trungpa, den Lehrer, ganz naiv: Ich verstehe nicht recht, was ein Mandala eigentlich ist. Darauf sagt er:

Es ist Raum, in dem eine Situation geschaffen wird, die auf Begrenzung beruht, einem Revier sozusagen. Es hängt davon ab, ob wir Raum als Raum begreifen oder ihn festklopfen, ob wir nur noch die Grenze als Raum erleben oder den Raum selbst. … Oder sind wir gar bereit, diese ganze Angelegenheit mit Grenze und Raum bleiben zu lassen und uns auf den grundlegenden Grund einzulassen?

Das wäre es, was der Buddhist will: aus den Gegensätzen und Kategorien hinauszuspringen, sich über sie zu erheben, indem man sie ignoriert; das ist noch ein Schritt über die Dialektik hinaus. Schau, was du vor dir hast, sagt der Buddhist. Nimm die Schleier weg. Und alle unsere Worte und Emotionen sind derart geladen mit Bedeutung, dass wir gar nicht mehr wissen, worum es geht. Achtsamkeit ist schon ein Modewort, wir sehen darunter ein gewissenhaftes, vorsichtiges und bewusstes Vorgehen, wo der Buddhist sagt: Achtsamkeit ist Gewahrsam ohne Konditionierung.

Etwas sehen, als sähe es nicht ich, sondern als werde es gesehen. Ich versuche derzeit, meinen Blick zu weiten, und auf meinen Fahrten sehe ich plötzlich viel mehr, als ich vorher gesehen habe. Wie automatenhaft wir doch durchs Leben gondeln! Wir hängen in unseren Tagträumen und sehen nicht, wo wir uns bewegen. Oder wir sind durch Raum oder Grenze hypnotisiert. Es gibt Menschen, die immer nur wissen, was du nicht darfst und was sie selber nicht dürfen; ihr Raum ist eng, sie sind wie Ratten im Käfig, die in steter Angst leben, anzustoßen. Und andere kennen nur den Raum, dehnen sich selbstmächtig aus und überrollen andere, eine Grenze kennen sie nicht, doch früh genug rennen sie sich die Köpfe wund.

Die arroganten Karrieristen wollen etwas und gehen dabei über Grenzen hinweg, verletzen andere und mischen alles auf. Die sind nicht das Problem; schlimm sind die vielen Blockierer und Regelkenner, die nicht wollen, dass sich etwas ändert. Sie sind ängstlich und autoritätshörig und dafür verantwortlich, dass die Mutigen resignieren. Allen Organisationen wohnt eine gewisse inertia inne; sie wollen überleben und möglichst alles so lassen, wie es ist. Weil alle meinen, viel verlieren zu haben und sich an das klammern, was sie haben.

Oder aber: nicht Raum, nicht Grenze. Nicht daran denken, sich ausdehnen zu wollen oder sich blockieren zu lassen. Das Ich abtun; im ichlosen Zustand Dinge tun, die getan werden müssen, alles und nichts für möglich halten und Kategorien wie Raum und Grenze ablehnen. Keine Dogmen, keine Überzeugungen, keine Regeln. Unsre Denkweise kann sich von der anderer unterscheiden. Auf die Frage eines Journalisten sagte einmal einer der Gebrüder Coen: »In solchen Kategorien denken wir nicht.« Wenn nicht mehr gälte, dass Investitionen sich auszahlen müssen und der nächste Job mehr Gehalt bringen soll als der letzte, wenn man einer inneren Weisheit folgen wollte und deren eigenen Gesetzen!

Der tibetische Buddhismus will uns befreien von den Fesseln, die wir uns selber durch unser Denken anlegen. Wir müssen unser Gefängnis verlassen, Vorurteile abwerfen und alles neu sehen lernen wie Kinder. Werdet wieder wie die Kinder, dann steht euch das Himmelreich offen!

 

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