Licht in der Finsternis!

Wir hatten unser Studium des Diplom-Journalisten beendet, und zur Zeugnisverleihung erhielt jeder Absolvent eine historische Zeitung. Ich bekam die Weihnachtsausgabe 1945 der Hessischen Nachrichten, mit der großen Überschrift Licht in der Finsternis! Die linke Spalte der Titelseite will ich wiedergeben: einen Artikel von Martha Pucha aus Braunschweig: Heiliger Abend 1944.

40 Jahre nach 1944 bekamen also wir frischgebackenen Journalisten in München unsere Zertifikate, und nun sind schon wieder ein paar Jahre verstrichen. Doch wir irren uns, wenn wir die Vergangenheit für vergangen halten; alles, was geschehen ist, ist aufgehoben (irgendwo aufgehoben und nicht aufgehoben im Sinn von nichtig) und Teil eines gleichzeitig ablaufenden Geschehens in einer umfassenden Gegenwart, die auch tausend Jahre umfassen kann.

Die Geburt Christi dagegen ist ein Mythos, der sich alle Jahre wieder neu vollzieht, groß und mächtig. Es ist ein Märchen, und auch die Märchen sind zeitlos und ewig gültig. Doch geben wir der Autorin das Wort, über die wir nichts wissen.

Heiliger Abend 1944

Zagend wie ein von schwerer Krankheit Genesender gehen wir diesem ersten Weihnachten nach Kriegsende entgegen. Zwar schweigen die Kanonen, nicht mehr werden wir vom furchtbaren Heulen der Sirenen Tag und Nacht in die Keller und Bunker gehetzt, der Himmel speit nicht mehr Tod und Verderben auf die arme gequälte Erde ― aber ist es wirklich schon Frieden auf Erden? Noch will keine rechte Freude das Herz erfüllen. Die Gedanken kreisen um die grauenvolle Not um uns, sie sind bei denen, die heimatlos umherirren und denen kein Licht die Finsternis erhellt. Wie viele sind es, die das vorjährige Weihnachtsfest noch in der Geborgenheit eines eigenen unzerstörten Heimes im Kreise ihrer Lieben erlebten und heute nicht wissen, wo sie den morgigen Tag verbringen werden? Und wie viele sind es, die aus Gram über verlorene geliebte Männer und Söhne die trostlose Leere des Daseins gerade an Weinachten mit doppelter Bitternis empfinden, und viele Tränen werden fließen, auch weil manches arme Mutterherz nicht weiß, wo es ein Lichtlein, wo es eine bescheidene Gabe für die Kinder zur kleinen Freude findet! Die Kinder sind ja die unschuldigen Opfer des zu Ende gegangenen Wahnsinns der Zerstörung, des grausamsten Mordens, das die Welt je erlebte.

Erinnerung steigt auf an die Zeit, die ich im Konzentrationslager verlebte. Und ich sehe die Kinder wieder, die dort waren, teils mit ihren Müttern, teils nicht wissend, wo Vater und Mutter ihren Tod fanden. Und die Mütter sehe ich, denen man die Kinder nahm, die nicht wussten, ob sie sie jemals wieder in ihre Arme schließen werden. Noch immer höre ich die Klagen und sehe die von Gram und Tränen zerfurchten Gesichter. 

Weihnachten nahte! Aus den unmöglichsten Fetzchen wurden Püppchen gebastelt, die Kinder schnippelten und formten aus Papier Sternchen und Figuren. In all dem trostlosen Elend keimte kleine Weihnachtsvorfreude. Heiliger Abend! Der Tag begann wie jeder andere. Morgens um 4 Uhr Wecken, ohne das kleinste Stückchen Brot hinaus in die Dunkelheit und Kälte, Appellstehen bis 7 Uhr, auch die Kinder vom 10. Lebensjahr ab mussten die traurigen Stunden abstehen. Dann ging es zur üblichen Arbeit und nach Schluss der Arbeitszeit, vielleicht um uns die Härte der Haft noch fühlbarer werden zu lassen, um 6 Uhr abends wieder zum Appellstehen. Zwei lange Stunden hungernd und frierend in der Kälte standen die Tausende, Mädchen, Frauen und Kinder.   

Ein klarer Himmel wölbte sich über unsäglichem Elend, Heimweh und Sehnsucht nach geliebten Menschen. Endlich durften wir zurück in den Block. Wir durften unser Weihnachtsfest feiern. Irgend eine Frau hatte es verstanden, ein winzig kleines Bäumchen einzuschmuggeln. Selbst einige Lichtlein waren aufgesteckt. In den Bettladen hockten wir nahezu 400 Frauen enganeinander, geheizt wurde nicht, außerdem waren die meisten Fensterscheiben zerschlagen. Und mit einem Male ertönten Weihnachtslieder ― gesungen in vielen Sprachen, deutsch, polnisch, russisch, belgisch, holländisch, tschechisch, ungarisch und jugoslawisch. So klang die hundertfache Sehnsucht in den Raum und jeder fühlte sich in diesem Augenblick verbunden mit einem Herzen, das irgendwo in der Welt in sorgender Liebe für ihn schlug. Dann sang mit herrlichr Altstimme eie Polin das Ave Maria, noch nie war ich so ergriffen von diesem Lied, wie am Heiligen Abend 1944 in diesem Raume, der so erfüllt war von unendlichem Herzeleid. Lange konnte ich den Schlaf nicht finden, die Gedanken gaben keine gRuhe. Hin und wieder ein leises Schluchzen aus übergroßem Heimweh. Wird das nächste Weihnachten den Frieden auf Erden sehen? Werden wir es noch erleben?

Und nun ist es soweit. Aber noch ist kein Frieden. Noch immer sind die Herzen verhärtet vom Hass, ganz leise regt sich erst der Wille zum gegenseitigen Verstehen und Helfen. Vergrämt und bitter starrt das Elend in die Welt, wollen wir alle mithelfen, diese Welt umzubauen, damit endlich die Weihnachtsbotschaft Erfüllung finden möge: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.

Martha Pucha
Braunschweig.

 

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