Regen

Eine kleine Erzählung von W. Somerset Maugham (1874-1965), die auch als Diogenes-Buch klein ist (passt auf die Handfläche) heißt Regen, erhielt aber den Titel Die Leidenschaft des Missionars. Sagt schon zuviel aus. Die Erzählung ist aber großartig.

Regen heißt sie, weil Monsunregen zwei Ehepaare in einer Stadt festhält. Das Misionsehepaar Davidson will auf südliche Pazifikinseln, in ihre Mission, Doktor Macphail und seine Frau woandershin. Sie stranden also in einem Hotel vermutlich auf Honolulu, und unter ihnen hat Miss Thompson ein Zimmer bekommen, die dauernd Grammophonplatten laufen lässt und irgendwie lockere Sitten pflegt. Wer weiß, womit die ihr Geld verdient?

Frau Davidson ist furchtbar in ihrer Selbstgerechtigkeit – eine Strafe Gottes im Missionarsgewand. Die Tänze der Eingeborenen seien unmoralisch und führten zu Unmoral. »Nun, jedenfalls danken wir Gott, dass wir sie ausgerottet haben.« (Die Tänze meint sie.) Den knappen Wickelrock verboten sie (indem sie Strafen ankündigten), und dann kommt diese bemerkenswerte Aussage:

Als wir hinkamen, existierte für sie [die Eingeborenen] der Begriff der Sünde überhaupt noch nicht. Sie verletzten die Gebote eines nach dem andern, ohne zu wissen, dass sie unrecht taten. Und ich glaube, das war der schwerste Teil meiner Arbeit, den Eingeborenen beizubringen, was Sünde ist.

Der Missionar definiert, was Sünde ist. Das Christentum ist eine Erlöserreligion, wie es schon viele davor gab, und erlöst kann nur werden, wer der Erlösung bedarf. Wer fröhlich dahinlebt, ist kein potenzieller Kunde. Im Kapitalismus ist es ja auch so: Die Leute müssen erst begreifen, dass ihnen etwas fehlt, dann erst kaufen sie. Wer nichts braucht, ist kein potenzieller Kunde. Und wer sich gut fühlt, geht nicht in die Apotheke. Man muss den Leuten klarmachen, dass sie eigentlich krank sind oder ziemlich schnell krank werden könnten, dann hat man sie im Sack.

Die Schleierkarawane

Religion gibt Regeln und lebt von ihnen. Sie ist Unterjochung. Dazu passt die Geschichte Die Schleierkarawane von Ismail Kadaré, dem 1936 geborenen albanischen Autor. Hadschi Milet muss mit seiner Karawane eine halbe Million schwarze Schleier auf den Balkan bringen, deren Frauen nach Meinung des Scheich-ul-Islam , Herrscher des Osmanischen Reiches, verhüllt werden müssen. Grundlage war das Schleier-Dekret, denn so soll der Dschinn, der Dämon in der Frau besiegt werden, denn natürlich war in den Augen der männlichen Ober-Moslems die Frau die Gefahr.

Hadschi Milet trifft glückliche unverschleierte Frauen an einem Brunnen und wird selber glücklich dabei, als er sie ansieht. Er liefert seine Schleier ab und fühlt sich dabei immer unglücklicher. Auf der Rückreise, nach erledigter Mission, bricht er in Tränen aus. Es war sein Job, aber er hat an einer Unterdrückung mitgewirkt und spürt sein Gewissen.

Das Ende möchte man ungern verraten. Also wieder: Spoiler Alert! Wer beide Geschichten lesen will, sollte nun nicht weiterlesen.

Bei Somerset Maugham zwingt Missionar Davidson, indem er den Gouverneur einschaltet, Miss Thompson dazu, ein Schiff nach San Francisco zu nehmen, wo auf sie leider eine lange Haftstrafe wartet. Diese Strafe sei gut für sie und werde sie befreien, meint Davidson, der immer häufiger zu ihr hinuntergeht und mit ihr betet, den letzten Rest von Sünde entfernt, denn Miss Thompson ist gedemütigt und man spürt, sie ist erledigt. Doch die häufigen Besuche sind auch gefährlich, das Ende ist verblüffend und ereilt den Missionar selbst.

Auch mit Hadschi Milet endet es. Er wird festgenommen, weil man gehört hat, wie er geweint hat. Vielleicht hat er Schuld auf sich geladen? (Diese Lösung ergibt sich wohl aus den Erfahrungen des Autors mit einer Diktatur, die Albanien Jahrzehnte war.) Er wird eingebuchtet und stirbt im Gefängnis. Wer die Sünde bekämpft oder sich zu deren Bekämpfung hergibt, kann dabei untergehen. Wir brauchen keine Erlösung durch Religion. Was Sünde ist, sagt uns unser Gewissen, und kann denn Liebe Sünde sein? So singt Zarah Leander in einem Film aus dem Jahr 1938. Ein Jahr später kam der Große Krieg. Die Menschheitsgeschichte ist voll von Unterdrückung und Terror.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.