Tatkraft und Tatsinn

In dem Roman Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil redet der Titelheld Ulrich oft schlau daher, und meistens hat er recht. Er hebt die Moral der Leistung hervor und sagt, dass als gut gelte, »was uns die Illusion gibt, dass es uns zu etwas bringen werde«. Was vor langer Zeit geschrieben wurde, ist heute noch so.

Musil schrieb das vermutlich in den 1930-er Jahren und münzte es auf die Zeit um die Jahrhundertwende, um 1900, als es »Kakanien« noch gab, Österreich-Ungarn, das 1919 zerbrach. Seine Zwillingsschwester Agathe – die beiden lieben sich – meint, wenn er von ihr Leistung wolle, verzichte sie lieber auf jede Moral. Ulrich erwidert:

Gott sei Dank! Ich freue mich ja jedesmal, wenn ich deine Jugend, Schönheit und Kraft ansehe, und dann von dir höre, dass du gar keine Energie hast! Unser Zeitalter trieft ohnehin von Tatkraft. Es will nicht mehr Gedanken, sondern nur noch Taten sehn. Diese furchtbare Tatkraft rührt davon her, dass man nichts zu tun hat. Innerlich meine ich.

Gut gesprochen. Auch heute wird viel gehandelt wird viel Sinnloses getan. Die Tatkraft steht hoch im Kurs, und die Krankheiten der Stunde sind Depressionen und Burnout: deren Gegenteil. Menschen können nicht mehr Schritt halten, verzagen, werden mutlos, versinken in Schweigen und bleiben im Bett. Im 19. Jahrhundert litten viele, vor allem Frauen, unter Neurasthenie oder Hysterie. Damit reagierten sie auf ihre Machtlosigkeit, und es waren irgendwie parodistische, unklare Krankheitsbilder. Heute ist der Fall klar. Man verweigert sich den Zumutungen der Überforderung. Ulrich weiter:

Aber schließlich wiederholt jeder Mensch auch schließlich sein Leben lang bloß ein und dieselbe Tat: er kommt in einen Beruf hinein und darin vorwärts. Ich glaube, hier sind wir wieder bei der Frage, die du vorhin unter freiem Himmel gestellt hast. Es ist so einfach, Tatsinn zu haben, und so schwierig, einen Tatsinn zu suchen! Das begreifen heute die wenigsten. … Ich meine, in Wirklichkeit hätten wir nicht Taten von einander zu fordern, sondern ihre Voraussetzungen erst zu schaffen; so ist mein Gefühl!

Was ist dieser Tatsinn? Er wächst von innen heraus und tut das Richtige. Er ist das rechte Bewusstsein. Ich denke dabei an Krishnamurti, der einmal sagte, alle Reformen seien falsch; wenn das Bewustsein stimme, werde der Rest auch stimmen. Und Augustinus sagte: Tu alles mit Liebe, und alles wird richtig sein. Arbeit am Bewusstsein ist wichtiger, als hier und da äußerliche Korrekturen vorzunehmen, die zwar das Gewissen beruhigen, aber die nicht immer angenommen werden, weshalb sie überwacht und etwaige Übertretungen bestraft werden müssen.

Vieles wird von oben herab dekretiert, ohne vorher Überzeugungsarbeit geleistet zu haben. Auch heute regiert munter der Obrigkeitsstaat. Diskutiert wird wenig, emotional debattiert viel. Leute sitzen in Ämtern und Firmen herum und wissen, dass von ihnen (für ihr Gehalt) Taten erwartet werden. Also müssen wir uns zunehmend mit unsinnigen Anweisungen und Produkten herumschlagen.

Die Auszüge sind aus den Seiten 740/741 meiner MoE-Ausgabe 1960, Europäischer Buchklub Zürich, Stuttgart, Salzburg. Das Kapitel trägt die Nummer 10 und heißt Weiterer Verlauf des Ausflugs auf die Schwedenschanze. Die Moral des nächsten Schritts.              

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