Im Spiegel (3)

»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?« Die böse Stiefmutter steht im Märchen Schneewittchen vor dem Spiegel und erfährt von ihm, dass hinter den sieben Bergen eine lebt, die noch viel schöner ist als sie. In die Kristallkugel schauen die Magier, denn auf einer spiegelnden Oberfläche zeigen sich manchmal die Ereignisse der Zukunft oder ferner Gegenden. Heute: Der Spiegel als Orakel.

stiefmutterAuch in Goethes Faust zeigt sich im Spiegel das Bild einer Frau, die er besitzen will. Faust, »welcher diese Zeit über vor einem Spiegel gestanden, sich ihm bald genähert, bald sich von ihm entfernt hat«:

Was seh ich? Welch ein himmlisch Bild
Zeigt sich in diesem Zauberspiegel!
O Liebe, leihe mir den schnellsten deiner Flügel,
Und führe mich in ihr Gefild!

Das ist aus dem Urfaust, gleich nach der Szene in Auerbachs Keller.

Der Spiegel kann auch außerkörperliche Reisen befördern und den Kontakt zu Verstorbenen herstellen. Odysseus schaut in die Oberfläche des Blutes von Opferschafen und spricht mit seiner Mutter. Raymond Moody ließ sich von einem Kessel in Epidauros inspirieren, der blankpoliert war und wohl auch eine transparente Flüssigkeit enthielt. Er baute ein Haus in Albany aus, und in vielen Zimmern stand ein Spiegel, der mit schwarzen Tüchern umgeben war. Moody sprach zuvor auf einem Spaziergang mit jemandem, der einen Menschen verloren hatte, und dann ging es hinein in den dunklen Raum. Man darf nicht direkt hineinschauen, nur etwas an ihm vorbei, und dann kann es vorkommen, dass sich der oder die Verstorbene zeigt. Moody führt viele positive Zeugnisse von Besucherinnen auf. Manchmal wurden sie von einer Gestalt, die aus dem Spiegel zu kommen schien, berührt, manchmal hatten sie das Gefühl, in den Spiegel hineinzugleiten.

Ich müsste mir das Buch Crystal-gazing von Besterman ausleihen, dann wüsste ich mehr. Ich tu’s und schreibe dann weiter. — Gesagt, getan. Ich habe das Werk von 1965 kurz durchgeblättert, es stellt die Kristallschau (oder Mantik, im Griechischen) in allen Kulturen der Vergangenheit vor, und da gab es viele Beispiele. Wichtig ist, dass man in eine spiegelnde Oberfläche blickt und das nicht angestrengt tut. Besterman erwähnt auch Telepathie und Zukunftsschau, doch damit belehrt er nur Unwissende; auch er hat natürlich keine Theorie zu bieten, denn man weiß einfach nicht, weshalb sich im Spiegel ferne Länder oder zukünftige Zeiten zeigen. Es kommt auf den Menschen an, der hineinschaut. Er sollte medial begabt sein, dann ist das Gerät gleichgültig. Vielleicht helfen ihm auch die Geister, irgendwie funktioniert es.

Was ich toll fand: Theodore Besterman definiert auf den letzten Zeilen seines Buches das Kristallsehen. Es mag eines der wenigen Bücher dieser Welt sein, bei denen die Definition dessen, was abgehandelt wird, am Schluss auftaucht. Darum zitieren wir sie (in meiner Übersetzung):

Die Kristallschau (scrying) ist eine Methode, dem Seher (der Seherin) durch einen Spiegel und durch einen oder mehr Sinne den Inhalt seines Unbewussten bewusst zu machen; ihn empfänglicher zu machen für telepathisch übermittelte Konzepte und in ihm/ihr eine verborgene und unbekannte Fähigkeit der Wahrnehmung wachzurufen. 

Es heißt auch, dass die Tarot-Karten und das I-Ging etwas zeigen, was wir in Wirklichkeit wissen, ohne es bewusst zu wissen. 50 Prozent unserer Träume betreffen die Zukunft, stellte ein englischer Privatforscher fest. Etwas in uns reicht hinüber in die Zukunft, die nichts ist, was irgendwann eintritt, sondern die immer schon da ist, siehe den Beitrag Alles gleichzeitig.

 

 

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