Nijinskis Verdunkelung

Wir hatten Vaslav Nijinski zu Wort kommen lassen, den »Gott des Tanzes«. Ich las seine Biografie, geschrieben von seiner Frau Romola, und war erst empört darüber, wie das gelaufen war 1919, als der Tänzer in die Psychiatrie wanderte. Erst nach 25 Jahren nahm er wieder Kontakt mit der Außenwelt auf. Versuchen wir die Indizien zu bewerten. Hat man Nijinski übereilt zu den Irren abgeschoben?

hannesschamaneMan weiß, dass manipogo am Wahnsinn interessiert ist. Man weiß aber nicht, was Wahnsinn eigentlich ist. Er ist gar nicht; wir leben in der Welt, und darum kann unsere Umwelt (die Menschen) uns verrückt machen. Jemand kommt nicht mehr zurecht, kämpft gegen äußere und innere Dämonen, und als Ausweg lässt er (oder sie) sich von seiner (ihrer) Innenwelt überwältigen. Dann ist Hilfe nötig.

Ich habe ja nur Romola Nijinskis Buch, aber aus dem erschließt sich viel. Ich bin heute viel kritischer den Autoritäten gegenüber als früher, und ich bin realistisch. Vaslav lebte mit seiner Frau in St. Moritz. Man muss vorausschicken, dass sie ihn — das gibt sie in dem Buch zu — besitzen wollte. Sie entrang ihn dem übermächtigen Freund und Mäzen Sergej Diaghilew, der ihn behütete und selber besitzen wollte. Wie schön es doch sei, dass Vaslav die Liebe zu einer Frau kennengelernt habe! So jubelt Romola. War Nijinskis Leben mit umjubelten Gastspielen in Paris, Wien, London und München schon vorher anstrengend genug gewesen, so ging es nun nach Übersee, in die Staaten, nach Südamerika. Nijinski dachte viel über den Tanz nach, war auch ein großer Theoretiker, aber dafür hatte er nicht viel Zeit.

Und dann zogen sie nach St. Moritz, er betrieb Wintersport, und dann bemerkt Romola, dass er sich merkwürdig verhält (er fragt Dorfbewohner, ob sie in der Kirche waren), manchmal einen metallischen Blick hat, manchmal unvermutet zu viel riskiert … Ein junger Mann, der Nietzsche kannte, bemerkte, dieser habe sich verhalten wie Nijinski jetzt, kurz bevor Nietzsche verrückt wurde.Jemand wird verrückt. Ist das ein Faktum? Oder ist es nicht so: Jemand driftet in die Verrücktheit ab, weil sie ihm attraktiver vorkommt als sein gegenwärtiges Leben.

All das beeinflusste Romola. Sie stellt einen Pfleger an, einen Münchner, der sich nach zwei Wochen jedoch verabschiedet und sagt: »Sie verschwenden Ihr Geld, wenn Sie sich einen Pfleger halten. Herr Nijinski ist der gesündeste Mensch in ganz St.-Moritz-Dorf.« Dieser Mann war Chefpfleger in der Psychiatrie und hatte 35 Jahre Erfahrung. Das merken wir uns.

DSCN4591Gut, dann tritt Vaslav im Frühjahr privat auf und bleibt eine halbe Stunde auf der Bühne sitzen. Endlich sagt er, er werde den Krieg tanzen, und dann wirbelt er umher und sät Trauer und Erschrecken. Donnernder Applaus. Vielleicht hat der Krieg den Tänzer wirklich verstört, von dem er nur von fern hörte. Jemand sagt, es sei schwierig, mit einem Genie verheiratet zu sein. Könne sie nicht einen einfacheren netten jungen Mann heiraten? Romola jedenfalls gerät ins Zweifeln. Sie sieht Zeichen einer Veränderung, und es fällt ihr nichts anderes ein, als Professor Eugen Bleuler zu konsultieren. Es ist unglaublich: Bleuler, der große alte Mann der Psychatrie, redet eine Stunde mit Nijinski und eröffnet Romola hinterher, ihr Mann sei »unheilbar geisteskrank«. Sie solle ihre Kinder wegbringen und ihn versorgen lassen.

Was für ein schreckliches Urteil! Unheilbar geisteskrank. Später äußerten sich auch Jung und andere Koryphäen und schwatzten von einem Minderwertigkeitskomplex und von noch mehr, doch das verdeckte nur ihr Unwissen. Psychiater, diese armen Menschen, wissen so wenig! Eugen Bleuler setzte sich für Zwangssterilisationen ein und glaubte nicht an Heilung; seine Patienten wurden versorgt und mussten arbeiten, mussten sich selbst beherrschen und wurden »dressiert« (Wikipedia).

Vaslav war noch nicht 30 Jahre alt und der größte Tänzer der Welt. Er saß in seinem Hotelzimmer im Baur-en-ville, dann kam der Polizei-Krankenwagen, Feuerwehrleute umstellten das Hotel; er fragte, was er getan hätte, bekam keine Antwort, und dann holten ihn die weißen Männer ab. In der Anstalt hatte er einen ersten Anfall. Kein Wunder. Das würde jeden verrückt machen. Als seine Frau ihn wieder nach Hause holte, war er gewalttätig, und nur, wenn er Ballett sah, war er der Alte. Romola gibt zu:

Leider musste ich feststellen, dass er überall, außer in Kreuzlingen, vernachlässigt, schlecht ernährt oder sogar manchmal misshandelt wurde.

Er bekam alle möglichen Therapien, aber war halt unter die Irren gepfercht; und dann, 1945, als er mit russischen Soldaten sprach, lösten sich alle Blockaden, heißt es bei Wikipedia. Nijinski wandte sich wieder der Außenwelt zu. Plötzlich hatte er wohl wieder Heimat erlebt, nachdem er 25 Jahre lang ein lebender Toter gewesen war, unter Verschluss gehalten und wie ein Idiot behandelt. Er starb fünf Jahre später. Ich gebe zu: Wir wissen nicht genau, wie es zugegangen ist. Aber Romolas Bericht legt den Verdacht nahe, dass Nijinski in St. Moritz unglücklich war; ihm fehlte seine Aufgabe, er rutschte in eine Krise und hätte sie auch anders bewältigen können. Krisen gibt es. Unheilbare Geisteskranke gibt es vielleicht nicht.

Der Chefpfleger hielt Nijinksi für gesund; aber was ist ein Pfleger, auch wenn er viel Erfahrung hat, gegen einen weltberühmten Professor? Der redet kurz mit dem Patienten und zerstört mit seiner Autorität und einem Satz das Leben eines genialen Menschen.

 

Oben rechts: Schamane, Bild von Rolf Hannes
Links: Skulptur in Italien am Meer, Nähe Pisa.

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Und ein aktuelles Buch:
Neben der Spur von Christiane Wirtz

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