Nach Auschwitz

Meine große Radtour des Jahres begann am 1. September in Chemnitz und führte in fünf Tagen nach Auschwitz; zurück ging’s über Prag und Karlsbad nach Hof. Es hatte sich so ergeben, weil mich der Autoverkehr quälte und ich deshalb Tschenstochau und Kattowitz vom Plan strich. Also eine Auschwitz-Sühnefahrt. Ich blieb dort einen Tag.

Wie sage ich das? Das schlimmste Menschheitsverbrechen kann niemals gutgemacht werden, aber das deutsche Volk hat dafür nicht genug bezahlt. Moralisch, meine ich. Viele Nazi-Täter kamen in der Verwaltung wieder unter, die Strafen für mordende Verbrecher waren meist lächerlich, und den zurückgekehrten Emigranten und Holocaust-Überlebenden begegnete man mit Ignoranz. Man wollte das Fürchterliche nicht wahrhaben und es totschweigen. Die überlebenden Opfer sahen sich doppelt bestraft.

074

 

Vier Jahre nach der Befreiung wurde das deutsche Grundgesetz erlassen. Die Würde des Menschen ist unantastbar! Und denoch. Wie schwer es Erich Maria Remarque hatte, seinen Roman Der Funke Leben, der im Konzentrationslager spielt, 1952 zu veröffentlichen! Zwanzig Jahre nach der Auschwitz-Befreiung, 1965, kam es endlich in Frankfurt zu Prozessen gegen die Täter (in Nürnberg waren nur die großen Tiere dran). 50.000 Bewacher gab es in allen Konzentrationslagern! Nur wenige wurden belangt. Ende der 1970-er Jahre konnten dann die ersten Holocaust-Berichte veröffentlicht werden.

078

 

Und jetzt rückt das Geschehen in die Ferne und wirkt so unglaublich-unglaubhaft wie die ersten Gerüchte über die Judenvernichtung 1942. Das Stammlager Auschwitz ist für viele Touristen eine Etappe auf Europa-Reisen zwischen Neuschwanstein und der Wiener Hofburg. Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ist dabei etwas, das sich dem Begreifen entzieht.

Im Stammlager fanden stundenlange Appelle in großer Kälte statt. Die Häftlinge standen manchmal den ganzen Tag. Raul Hilberg schrieb in Die Vernichtung der europäischen Juden:

Die Unterhaltsplanung war von fehlendem Interesse für das Leben der Häftlinge gekennzeichnet. (…) Ob ein individueller Jude lebte oder starb, war gänzlich unwichtig.

An den Rampen der sechs Vernichtungslager (Belzec, Sobibor, Lublin, Treblinka, Kulmhof, Birkenau), an denen die Züge eintrafen, erfolgte die Selektion. Nach links: ins Gas. Nach rechts: ins Lager. Erst wurde die Mannschaft vom Eintreffen eines Transports informiert. Die Maschinerie lief. Der Zug hielt. Alle raus!

An der Rampe

An der Rampe

Hilberg:

Von dem Augenblick an, in dem die Türen eines Zuges geöffnet wurden, hatten seine Insassen bis auf wenige Ausnahmen noch etwa zwei Stunden zu leben.

Die Bewacher trieben die Häftlinge in Auschwitz-Birkenau den Weg entlang zu den Gaskammern und Krematorien. Ab Mitte 1942 hielt ein SS-Mann ihnen dann eine Rede: Sie sollten sich auskleiden und duschen und sich beeilen, damit die Suppe nicht kalt würde. Als die Opfer dann die Gaskammer betraten, wurde das Licht gelöscht. Ein Rot-Kreuz-Wagen mit dem Zyklon-B-Gas fuhr vor, ein SS-Mann mit Maske schüttete die Kugeln in einen Schacht. Als die ersten zu Gas wurden, schrien die Menschen. Hilberg:

Auf der Flucht vor dem aufsteigenden Gas stießen die Stärkeren die Schwächeren nieder und stellten sich auf die Liegenden, um gasfreie Lufschichten zu erreichen und so ihr Leben zu verlängern. Der Todeskampf dauerte etwa zwei Minuten; dann hörte das Schreien auf, und die Sterbenden fielen übereinander. Innerhalb von fünfzehn (manchmal fünf) Minuten waren alle in der Gaskammer tot. Nun ließ man das Gas entweichen, und nach einer halben Stunde wurde die Tür geöffnet. Die Leichen fanden sich turmartig aufgehäuft, manche in sitzender oder halbsitzender Position, Kinder und ältere Menschen zuunterst.   

087

 

 

Weitere Beiträge auf manipogo zum Thema:
Der Untergang der ungarischen Juden
György Konràd
Eichmann in Jerusalem
Die jüdische Skelettsammlung
Schicksal der Familie Moses Bloch
Bahnstation Treblinka
Vernichtung durch Arbeit.

In meiner damaligen Kolumne der Kritischen Ausgabe plus:
Über die Opfer
Über die Täter
Sonderbehandlung (das solltet ihr lesen, unbedingt!)

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.