Münemann

Wir unterhielten uns letztes Wochenende in Offenbach nach dem Abendessen immer lange. Einmal erzählte ich von meinem Vater, und dann fiel der Name eines ehemaligen Chefs, Münemann, und meine Gastgeberin Edda rief aus: »Münemann! Den kenne ich auch!« Mein Vater hatte bei ihm 1962 gekündigt, und um diese Zeit traf die junge Übersetzerin Edda den Industriefinanzier, der ihr einen Job anbot, aus dem dann nichts wurde. 

Das war überraschend, und nun suchte ich etwas herum und stieß auf einen langen Artikel im »Spiegel« 7/1959 und merkte, was für eine große Nummer dieser Rudolf Münemann damals war. Er tat das, was heute Broker und Banker tun: Geld hin- und herschieben. Er finanzierte Projekte langfristig und besorgte sich das Geld dafür kurzfristig und veranstaltete legendäre rauschende Feste. Das Titelbild des Spiegel zeigt Münemann mit einem  dämonischen Gesicht, so dass er wie Rasputin oder Hanussen wirkt. Münemann wurde damals auch als »Cagliostro der Hochfinanz« bezeichnet, als Schwarzmagier des Geldes.  (Bild: aus dem Familienalbum. Der Chef beim Oktoberfest, etwa 1955.)

Der Finanzier besaß einen schwarzen Cadillac, einen grauen Buick und einen weißen Ferrari, ein Luxustöchterlein, und auch Prinzessin Soraya kam zu ihm. Er hätte gut in die heutige Zeit gepasst; aber dann wiederum sah Münemann aus wie eine Kreuzung aus Stresemann und Hindenburg: wie ein Mann der 1920-er Jahre.  

 

Mein Vater (Manfred, auch) war bei ihm ein kleiner Buchhalter, Nummer 050 (bei Münemann hatten die Angestellten Nummern), und ja, ich kann mich in seine Haut hineinversetzen und frage mich: Was hat er da gemacht, der ja genauso naiv und gutmütig war wie ich es bin? Hat er diese fadenscheinigen riskanten Geschäfte durchschaut? Er hätte, wäre er schlau gewesen, bei Münemann Karriere machen können, denn natürlich mochten ihn alle; aber er zog es vor, sich selbstständig zu machen und als Solist ehrlich sein Geld zu verdienen.  (Bild: aus dem Familienalbum. Mein Vater als Kellner bei Münemann.)

Man zieht einige Quellen heran, und so vervollständigt sich ein Bild. Ich weiß nun mehr. Den Jahren meines Vaters bei Rudolf Münemann von 1953 bis 1962 , als er dann 35 Jahre alt war, entsprechen meine Jahre bei der Deutschen Presse-Agentur (1985−1991). Und auch ich habe mich aus der »großen Welt« ausgeklinkt und bin davongeschwebt.  

Noch ein Buchhalter 

Die Vergangenheit ist nicht vergangen. Sie verändert sich in dem Maße, in dem wir mehr Details erfahren; sie erhält neue Farben und Schattierungen und wirkt auf uns zurück. Es ist faszinierend, Geschichten zu rekonstruieren. Manchmal fallen einem die Informationen in den Schoß.  

Ich überarbeite derzeit mein Radsportbuch von 2006 und mache die schöne Erfahrung, dass Episoden sich durch das Heranziehen mehrerer Quellen ergänzen und »rund« werden. Nur ein kleines Beispiel: Das gibt es Berichte, dass Jacques Anquetil 1964 bei der Tour de France im Nebel einen Pass ganz riskant hinuntergerauscht sei. Die wenigen Zeilen lesen sich gut. Aber halt: Weshalb riskierte der etwas dröge Anquetil, den sie manchmal »Buchhalter« nannten, plötzlich sein Leben? 

Ich fand zwei Stellen, die ich noch nicht kannte. In einem Buch stand, Anquetil habe am Abend zuvor in Andorra eine Party besucht, Alkohol getrunken und geraucht. Am nächsten Tag ging es ihm schlecht. Sein Rivale Raymond Poulidor fuhr davon. Da griff Anquetils Sportlicher Leiter Gémigniani auf den Rücksitz seines Wagens, holte eine Flasche Champagner, die für die Siegesfeier in Paris gedacht war und goss davon in eine Wasserflasche. (Bild: Rennfahrer nach dem Bräustüberl.)

Das werde ihn  umbringen oder ihm Beine machen, sagte er. So ging es vor 50 Jahren zu. Und plötzlich versteht man, warum der Buchhalter (auch er!) sich im Nebel zu Tal stürzte: Mit aufgefrischtem Blutalkoholgehalt vergass der Meister alle Vorsicht; aber es ging gut.  Anquetil gewann seine vierte Tour de France hintereinander.   

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