Symbol: der Turm

Ich wollte schon seit längerem über den Turm schreiben, der nicht nur ein hervorstechendes Bauwerk ist, sondern auch ein Symbol sein kann. Man hat mir oft Kalender mit Leuchttürmen geschenkt, und ich habe überlegt, was das bedeutet. Dann fand ich auf einem Weg ein eingerolltes Blatt, mit Faden umwickelt: eine Kinderzeichnung. Da war ein Turm drauf. Also fing ich an.

Ich nahm das eingerollte Ding mit und öffnete es erst später. Da steht ein kleines Mädchen oben an dem Haus oder Turm, und was die blaue Flut ist, wird nicht klar: Wasser? Eine Rutsche? Das Mädchen ist unglücklich, denke ich mir. Es hat Angst. Wo es steht, fallen Regentropfen, rechts vom Haus scheint die Sonne. So hat sich Nelly (umseitig auf dem Blatt stand ihr Name, daneben Oma Opa Papa Mama) sich also gesehen.

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Da fällt einem Blatt 16 im Tarot ein: Der Turm, in den der Blitz schlägt. Das ist die Wendung, die Katastrophe. Alles kaputt; nun fängt der Neuaufbau an. Allerdings zeigte schon Karte 13, der Tod, einen Umschwung, einen Abschied vom Alten. Danach folgen Gerechtigkeit (14) und Der Gehängte (14), der für selbstloses Tun steht. Die Arkana im Tarot bilden auch eine Seelenreise ab. Der Narr (Karte mit dem Wert 0) startet, und irgendwann verliert er alles, doch es geht weiter, bis hin zu Karte 21, die Welt. Die Sonne geht wieder auf.

Sonst ist man im Turm ja ziemlich sicher. Guan, die Betrachtung ist Zeichen 20 im I Ging, dem alten chinesischen Orakel. Die Verbindung zum Turm gibt es. Wird so erklärt:

single_towerDer chinesische Name des Zeichens hat mit leichter Abwandlung der Betonung eine doppelte Bedeutung. Einerseits bedeutet es das Betrachten, andererseits das Gesehenwerden, das Vorbild. Diese Gedanken werden dadurch nahegelegt, dass das Zeichen aufgefasst werden kann als das Bild eines Turmes, wie sie im alten China häufig waren. Von solchen Türmen hatte man eine weite Aussicht ringsumher, und andererseits war ein solcher Turm auf einem Berge weithin sichtbar. So wird durch das Zeichen ein Herrscher gezeigt, der nach oben das Gesetz des Himmels und nach unten die Sitten des Volkes betrachtet und der mit seiner guten Regierung ein erhabenes Vorbild für die Massen ist.

DSCN2001Überall gab es im Mittelalter Türme, um angreifende Heere sehen zu können, die wiederum auch den Turm sahen. Und die Kirchtürme in allen Gemeinden, sich in Richtung Himmel streckend! Die Kirche ist überall, hieß das, achtet sie, sie hat Verbindung zum Allerhöchsten. Die Hochhäuser von Mexiko-Stadt, New York, Dubai und wo immer (Frankfurt) sprechen von Geld und Reichtum, von Hybris (der Turm von Babel, der Gott erreichen wollte) und bautechnischer Meisterschaft. Die Twin Towers, die flachgelegt wurden, bedeuteten mehr als zwei Türme, die einstürzten. Für die Attentäter war es ein Sieg über den verhassten, vermeintlich gottlosen Kapitalismus des Westens, und der Westen (die USA) konnte diese Schmach nicht ertragen und rächte sich mit der Invasion Afghanistans und des Irak.

DSCN4566Der Leuchtturm will und muss auch gesehen werden und zeigt den Schiffen durch sein Lichtsignal die Küste, die Gefahr der Untiefen und der Klippen. Da oben saß der Leuchtturmwärter, bevor ihn die Technik ersetzte. Ich war vermutlich einsam als junger Mensch, und in dem tragischen Alleinsein denkt man sich in einen Turm, weit weg von den Menschen. Aber herausgehoben ist man auch; man möchte Lichtbringer sein.  Was vielleicht auch der Gelehrte sein will, der in seinem Elfenbeinturm über die Geschicke des Lebens nachdenkt.

DSCN2776In Tod am Tiber habe ich die Geschichte Latarnik von Henryk Sienkiewicz erwähnt. Rudi liest sie einem Polen vor (ich habe es kürzlich wiederholt und einem polnischen Heimbewohner daraus vorgelesen). In der Erzählung wird ein Leuchtturmwächter gesucht, weil der alte verschollen blieb. Ein alter polnischer Soldat, der durch alle Welt reiste und überall vom Pech verfolgt wurde, meldet sich, bekommt den Job, übt ihn zuverlässig aus — bis er alte Hefte aus der Heimat bekommt, die in ihm starkes Heimweh wecken, und er träumt und weint und vergisst deshalb, das Leuchtfeuer einzuschalten. So verliert er seinen Posten und muss weiter durch die Welt ziehen.

Im Märchen sind Mädchen auf einen Turm verbannt, und in der Literatur wird das Thema auch benutzt. In der Kartause von Parma von Stendhal ist ein junger Adeliger in einen Turm eingeschlossen, kann aber fliehen und wird Kirchenfürst. Die Fahrt zum Leuchtturm von Virginia Woolf behandelt eine Familiengeschichte um Mrs Ramsey, doch Frau Woolf gab an, beim Leuchtturm habe sie sich nichts gedacht. Man kann sich vieles dabei denken, und dennoch: No man’s an island, wir sind miteinander verbunden, wir alle, und die Türme drücken eine Sehnsucht aus: Verbindung zum Himmel zu bekommen, zur anderen Dimension.

 

Illustrationen, von oben nach unten: Venedig, Frankfurt, Pisa, Nähe Taranto. 

 

 

 

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