Wie war es?

Reisen in die Unterwelt gehören zu vielen Sagen vieler Kulturen, und es gibt sie in Märchen und in der Literatur. Die Göttliche Komödie von Dante Alighieri, die eine einzige Jenseitsfahrt ist, habe ich immer nur am Rande behandelt. Jetzt will ich den 11. Gesang der Odyssee von Homer schildern und auch wieder einmal an Spoon River von Edgar Lee Masters erinnern. Darin erinnern sich die Hinübergegangenen an ihren Tod und das Leben davor.

Edgar Lee Masters (1868-1950) aus St. Petersburg — nicht in Russland, sondern im US-Bundesstaat Illinois — ließ in seiner 1915 veröffentlichten Spoon River Anthology in poetischer Sprache 212 (fiktive) Personen einer (fiktiven) amerikanischen Kleinstadt zu Wort kommen, die von ihrem Tod erzählen und noch einmal einen Blick auf ihr Leben werfen. Greifen wir ein Beispiel heraus:

Sarah Brown

DSCN2201Maurice, weine nicht, ich bin nicht unter diesem Pinienbaum.
Die balsamische Frühlingsluft flüstert durch das süße Gras,
Die Sterne glitzern, die Nachtschwalbe ruft,
Aber du trauerst, während meine Seele entzückt
Im gesegneten Nirwana des grenzenlosen Lichts liegt!
Geh zu dem guten Kerl, meinem Ehemann,
Der über das brütet, was er unsere schuldige Liebe nennt.
Sag ihm, dass meine Liebe zu dir nicht weniger mein Schicksal war
Als meine Liebe zu ihm — dass ich durch das Fleisch
Den Geist gewann und durch den Geist Frieden.
Es gibt keine Hochzeiten im Himmel
Aber es gibt Liebe.

Odysseus will mit den Toten im Hades sprechen: der 11. Gesang. Ein nördlicher Götterwind hatte ihn zu den Kimmeriern geführt. Der Held opfert ein Schaf und lässt dessen Blut in eine Grube strömen,

und aus dem Erebos kamen
Viele Seelen herauf der abgeschiedenen Toten.
Jüngling‘ und Bräute kamen, und kummerbeladene Greise,
Und aufblühende Mädchen, im jungen Grame verloren.

Sein Gefährte Elpenor erscheint. Wie kamst du, fragt Odysseus, hinab ins nächtliche Dunkel? »Der Weinrausch« ist die Antwort; er stürzte vom Dach, »der Nacken brach aus seinem Gelenk, und die Seele fuhr in die Tiefe.« Elpenor bittet um ein Begräbnis seiner sterblichen Reste, und Odysseus sichert es ihm zu. Dann erscheint seine Mutter. wonach er Teiresias befragt, der ihm eine schwierige Rückkehr in Aussicht stellt. Der Held ist ja seit vielen Jahren unterwegs (am Ende werden es 20 gewesen sein) und wusste nichts von seiner Mutter Tod. Woran sie gestorben sei? »Bloß das Verlangen nach dir, und die Angst, mein edler Odysseus, / Dein holdseliges Bild nahm deiner Mutter das Leben!« Da will er sie umarmen, aber drei Mal klappt es nicht; die Toten im Hades sind Schatten und Rauch.

12903rEs kommen die berühmten Frauen Tyro, Antiope, Epikaste, Chloris, Iphimedeia, Arete, und schließlich der große Agamemnon, weinend. Auch hier gelingt die Umarmung nicht. Wie er starb, im Kampf? Nein, von Aigisthos »unter den Freuden des Mahls« erschlagen, und »rings schwamm der Boden vom Blut«, und die Gattin des Mörders habe ihm, dem sterbenden Agamemnon, nicht einmal die Augen zudrücken wollen. Dann zeigen sich die drei Helden Achilles, Patroklos und Ajax. Achilles ist deutlich:

Lieber möcht ich fürwahr dem unbegüterten Meier,
der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun,
Als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen.

12899rAbseits steht Ajax, nach Achilles der größte Danaer und immer zornig gewesen. Er geht weg, aber Odysseus sieht so viel mehr, sieht gar Zeus mit dem Zepter und danach den Tityos, dem wegen eines Frevels die Geier die Leber wegfressen; den Tantalos, der im Wasser steht, schrecklichen Durst hat und es nicht schafft, zu trinken (die Tantalos-Qualen); und den Sisyphos, der andauernd einen schweren Fels den Berg emporschieben muss (und laut Albert Camus glücklich ist auf dem Weg nach unten, wo der nächste Fels auf ihn wartet). — Von diesem Bericht ließ sich sicher Dante inspirieren.

Schließlich ist da Herakles, der die schöne Hebe umarmt. »Ruht auch auf dir ein trauervolles Verhängnis?« fragt Herakles den Hades-Besucher, womit die Spannung erhalten bleibt für die nächsten Gesänge. Odysseus wartet noch kurz, wer sonst sich zeigen wolle:

Aber es sammelten sich unzählige Scharen von Geistern
Mit graunvollem Getös, und bleiches Entsetzen ergriff mich.

Odysseus flieht zum Schiff und befiehlt den Gefährten, die Seile zu lösen, und so durchschifften sie die Flut des Okeanosstromes und waren gerettet.

 

Illustrationen (von oben nach unten): ein Grab, irgendwo an der Straße; Büste einer archaischen Frau (Keystone Pictures, 1926); Statuen im Nationalmuseum Athen (H. C. White, 1901; DAnk an Library of Congress, Wash. D. C.)

 

 

 

 

 

 

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