Sebald

Heute vor elf Jahren ist W. G. Sebald von uns gegangen. Er erlitt am Steuer seines Wagens in der Nähe seines ostenglischen Wohnorts einen Herzanfall und prallte auf einen Lastwagen. Anfang des Jahres 2001 war sein Roman Austerlitz erschienen, der seither zu meinen zehn Lieblingsromanen zählt. Ein Germanist − ein Italiener oder Amerikaner − meinte kürzlich, Sebalds Werk sei das einzig Neue, das die deutsche Literatur in den vergangenen Jahrzehnten der Welt geschenkt hätte.

Ich will nun nicht auf die Schnelle eine Würdigung des Sebaldschen Werks vornehmen. Es gibt einen sehr guten Artikel von Franz Loquai, der Abschied von Max heißt; Max ließ sich Sebald wohl von seinen Freunden nennen (ist auch mein dritter Vorname). Er wurde 57 Jahre alt. Sein Werk wurde erst im Ausland angemessen gewürdigt. Es ist typisch, dass ich erst in Rom durch das Feuilleton der italienischen Zeitung Il Sole 24 ore, die auf gelbem Papier gedruckt ist, auf ihn aufmerksam wurde. Dann las ich die ersten Erzählungen und war begeistert.  

Zu seinem fünften Todestag habe ich schon bei der Kritischen Ausgabe über ihn geschrieben. Und dann entdeckte ich noch eine Internet-Seite über ihn. Einmal, unterwegs nach Bayern, bin ich absichtlich über Wertach im Allgäu gefahren und habe mir den Gasthof angeschaut, in dem er aufgewachsen war. Er studierte Germanistik, ging dann nach England, arbeitete ein Jahr im Institut am Rosenberg in St. Gallen (in dieser Stadt verbrachte ich vier Jahre) und bekam 1970 eine Dozentur in Norwich im Osten Englands.  

In St. Gallen, Ostschweiz

W. G. Sebald war ein sehr feinfühliger Mensch. Wie kein anderer schaffte er es darum, sogar Wanderungen zu einem Erlebnis werden zu lassen. Er spürte seltsame Geschichten auf, vertiefte sich in Archive, machte immer wieder Schwarz-Weiß-Fotos, die er seinen Erzählungen beigab, und vor allem pflegte er einen unverkennbaren Stil aus langen, ausschweifenden Sätzen, und in Austerlitz gibt es einen, der sich über neun Seiten hinzieht.   

Kürzlich habe ich mir den Nachlassband Campo Santo geholt mit Reiseberichten aus Korsika. 2005 war ich auch dort, mit Giovanna, deren Schwester und ihrem Mann (plus Hund), wir sahen das Museum Bonapartes, das Sebald auch besucht hat und den Friedhof von Ajaccio. Sebald selber schreibt in der Titelgeschichte über Friedhöfe und den Totenkult, und ihm ist wie uns aufgefallen, dass sich die Korsen (sagt man das so?) auf ihren Grundstücken bestatten ließen, weshalb echte Friedhöfe selten sind. Übrigens erwähnt er auch, Geister gesehen zu haben, die kleiner seien als wir Menschen und etwas verwischte Konturen hätten.  

Der Friedhof von Ajaccio

Gegen Ende des Beitrags macht er sich Gedanken über den Tod, und so kann ich einmal Sätze von ihm zitieren. Er meint, durch das Bevölkerungswachstum bräuchten wir uns vor dem Heer der Toten nicht mehr zu fürchten. Typisch Sebaldscher Pessimismus, wenn er schreibt, in den »Stadtschaften des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts« komme es darauf an, »dauernd Ballast über Bord zu werfen, alles, woran man sich erinnern könnte, die Jugend, die Kindheit, die Herkunft, die Vorväter und Ahnen restlos zu vergessen.« 

W. G. Sebald litt unter der Achtlosigkeit und dem rastlosen Leerlauf seiner Zeit, die auch noch die unsere ist. »Und aus einer gedächtnislosen Gegenwart heraus und angesichts einer vom Verstand keines einzelnen mehr zu erfassenden Zukunft werden wir am Ende selber das Leben lassen ohne das Bedürfnis, eine Weile wenigstens noch bleiben oder gelegentlich zurückkehren zu dürfen.«       

Vorvergangene Nacht ist in Landsberg am Lech meine Tante Irma gestorben, knapp 81 Jahre alt. Sie ist nun drüben, ist empfangen worden und wird sich einrichten. Dann in dem Buch »The Secrets of the Soul« von William Buhlman gelesen, der einen Gedanken herausstreicht, den man selten liest: Man dürfe es sich auf der astralen Ebene, die schön und nicht unähnlich zu unserer Welt ist, nicht zu gemütlich machen; die Seele müsse dort irgendwann erneut ihre Flügel aufspannen und sich zu ihrer wahren spirituellen Heimat aufmachen.    

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