Montessori und die Lüge

Die Kinder von Maria Montessori bekamen Probleme, als sie in den gewöhnlichen Schulbetrieb überwechselten. Nicht, dass sie zu wenig Leistung gebracht hätten – da hätte man gejubelt: Bei der Montessori gibt’s keine Noten, ihr seht, wohin das führt —, nein; doch sie waren zu ehrlich und offenherzig, was die Lehrer dann »widersetzlich und unverschämt« nannten. Betrachtet man die Gesellschaft näher, entdeckt man etwas.

Maria Montessori schreibt:

Betrachtet man aber die menschliche Gesellschaft näher, so entdeckt man, sie lebt so tief in der Lüge, dass man kaum Abhilfe schaffen könne, ohne alles Bestehende von Grund auf zu erschüttern. … Die Verstellungen der Erwachsenen, nicht die Lügen des Kindes, könnte man als einen mit dem wahren Leben nach und nach zusammengewachsenen schrecklichen Überzug bezeichnen, der … den darunter sich verbergenden Lebensmechanismus verschönen und zugleich schützen soll.

Das Kind lernt schnell. Es wird mit der Härte der Erwachsenen konfrontiert, die aus ihm einen funktionierenden Bürger wie sie machen wollen.

DSCN4324Wehrt sich das Kind, so ist der Erwachsene keineswegs bemüht, den wahren Sachverhalt zu erkennen, sondern nennt alles, was das Kind zur Rettung seines Eigenlebens unternimmt, Ungehorsam und üble Absicht. Nach und nach erstirbt die ohnehin schon schwache Stimme der Wahrheit und der Gerechtigkeit, und sie wird ersetzt durch einen äußerst dauerhaften Bestand an schillernden Phrasen wie Pflicht, Gerechtigkeit, Autorität. Vernunft und so weiter.

Das war 1938, am Vorabend des großen Kriegs und im Faschismus, natürlich viel schlimmer als heute. Theodor W. Adorno hat die Jahre bis 1946 in den Vereinigten Staaten verbracht und die moderne Konsumgesellschaft dort analysiert. In dem Buch Minima Moralia schrieb er (36):

DSCN3224Keine Forschung reicht bis heute in die Hölle hinab, in der die Deformationen geprägt werden, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage kommen. Es ist Grund zur Annahme, dass sie in noch frühere Phasen der Kindheitsentwicklung fallen als der Ursprung der Neurosen …

Adorno kannte ja auch die offene und latente Gewalt von Faschismus und Nazidiktatur, die Bürger zu stummen verängstigten Schatten degradierte; doch er kannte auch die fröhlich konsumierende Demokratie der Nordamerikaner und erklärte, dass die zeitgemäße Krankheit gerade im Normalen besteht. Immer wieder von mir gern zitiert sein Satz:

Die libidinösen Leistungen, die vom Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele benimmt, sind derart, dass sie nur vermöge der tiefsten Verstümmelung vollbracht werden können … Auf dem Grund der herrschenden Gesellschaft liegt der Tod. All ihre Bewegung gleicht den Reflexbewegungen von Wesen, denen das Herz stillstand. …. Trostlos aber der Gedanke, dass der Krankheit des Normalen nicht etwa die Gesundheit des Kranken ohne weiteres gegenübersteht, sondern dass diese meist nur das Schema des gleichen Unheils auf andere Weise vorstellt.

 

Illustrationen: Installationen, gesehen in Zürich.

 

 

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