Sieben Tage, sieben Jahre

Munter tun wir uns in vergangenen Jahrhunderten um. Herr de Montaigne bereiste 1580 unser Land, und 30 Jahre früher war das Heptameron von Margarete von Navarra (1492-1549) erschienen. Hepta heißt sieben auf Lateinisch. Margarete hatte der Novellensammlung Dekameron von Boccaccio (1350) nacheifern wollen, bei der an zehn Tagen 100 Novellen erzählt werden. Margarete starb, als erst 72 Novellen vorlagen, passend für sieben Tage. Also Heptameron. Eine Novelle nehmen wir uns vor.

Die Ausgangssituation ist ähnlich wie bei Boccaccio: Zehn Adelige warten in den Pyrenäen, bis sie nach Frankreich zurückkehren Ava-Barefoot Contessa 52können. Sie gehen in die Messe und erzählen sich am Nachmittag am Fluss Geschichten, bei denen allerdings die Liebe schlecht wegkommt. Da gibt es lüsterne Mönche, betrügerische Ehemänner, und alle überhaupt sind böse und durchtrieben. Mich sprach die 24. Geschichte an. Am Hof des Königs und der Königin von Kastilien lebt der Edelmann Elisor, »der war so vollkommen an Schönheit und allen andern guten Eigenschaften, dass er seinesgleichen in ganz Spanien nicht fand«. Alle bewundern ihn. Aber eine Frau sieht man nie an seiner Seite. Die Königin lässt nicht locker: Er möge ihr doch zeigen, wen er liebt. Elisor verspricht es. Auf einem Ritt im Wald werde er sich eröffnen.

DSCN4870Elisor tritt mit einem Brustpanzer auf, der ein Spiegel ist. Er hebt die Königin vom Pferd. Später beklagt sie sich, er habe nicht Wort gehalten. Elisor fragt: »Wen haben Sie gesehen, als ich Sie vom Pferd hob?« Dann gesteht er seine unermessliche Liebe für sie, die keine Belohnung brauche, denn sie spende ihm alle Seligkeit. Sie zu sehen, sei sein Segen. Sieben Jahre schon dauere seine Liebe für die Königin. Elisor bat sie sodann »inständig, ihm jede Prüfung aufzuerlegen, die ihr beliebe. Nichts sei so schwierig, dass er es nicht leichtlich vollbringen würde, um das Glück zu erlangen, dass sie sich von seiner Liebe überzeugen könne …« Ihr Einfall ist grausam. Er habe sie schon sieben Jahre geliebt, möge er nun also sieben Jahre verschwinden, ohne sie sehen zu dürfen, und danach würden sie mehr wissen. Sie bricht einen Ring entzwei und gibt ihm eine Hälfte — falls sie ihn nicht erkennen könne.

Sieben Jahre sind nicht lang und doch lang. Für Elisor wurden sie schlimm; man kann es sich vorstellen. »Als die sieben Jahre herum waren, gerade als sich die Königin zur Messe begab, trat ein Eremit mit einem langen Bart auf sie zu, küsste ihr die Hand und überreichte ihr eine Bittschrift.« Die Hälfte des Rings lag darin. Und ein langes Gedicht, in dem folgende Zeilen hervorstachen:

Die Zeit hat mir gezeigt, wie Liebe ist,
Wenn sie vom Himmel kommt und Gottes ist.
Lebt sie in uns, kann eitle Sinnenlust
Uns nicht mehr freun, wir stehn in Gottes Hut.
Die Zeit hat mich in seiner Lieb bestärkt,
Sie hat entfremdet mich der Sinnenbrunst.
Mein Herz, und was ich bin, bringt ich ihr dar,
Damit es ihr und nicht mehr Euch gehör.

Der Eremit schreibt: Lebt wohl, Madame. Die Hoffnung, dass wir einst uns wiedersehn, / Sie ist geschwunden jetzt und immerdar. Die Königin hat viel verloren. Sie ist tieftraurig und lässt den Eremiten überall suchen. Vergebens. Am Ende heißt es noch:

Aber Gott, der ihn aus ihren Händen errettet hatte, bewahrte ihn davor, ihr wieder zu verfallen, und nahm ihn zu sich in sein Paradies, ehe sie auf dieser Welt von ihm Kunde erhalten konnte.

036Das erinnerte mich an eine andere Geschichte, die von dem Perser Rumi stammen könnte. Ein Mann spricht die wunderschöne Prinzessin an, die er verehrt. Sie kommt gerade aus dem Badhaus, und er bittet sie um ein Stelldichein, wie man früher sagte; dann hieß es Rendez-vous, heute date. Die Prinzessin bestellt ihn zu Sonnenuntergang auf den Friedhof, denkt aber keine Sekunde daran, wirklich hinzugehen. Der Mann tut es aber und wartet. Er bleibt auf dem Friedhof, wartet und betet und fleht, und nach ein paar Jahren erlebt er die Verklärung und wird ein Heiliger.

Dabei geht es nicht um die Grausamkeit von Frauen, sondern um die Kraft einer größeren Liebe, die den Troubadouren und Rittern am Ausgang des Mittelalters sehr wohl bewusst war. Die Liebe zur Frau war nur eine Spielart der Liebe zu Gott, und es kommen einem die Gottesfreunde in den Sinn, die im 14. Jahrhundert im Umkreis der deutschen Mystik entstanden, besonders in Basel und in Straßburg. Es waren Laien, zu denen sich aber auch Nonnen, Mönche und Priester gesellten, und sie schrieben auf Deutsch und hatten eine besondere Beziehung zu Gott.

Auch Dante Alighieri erwähnte die Bewegung, die sich nie richtig festmachen ließ, aber der Liebe zur Schöpferkraft den höchsten Rang einräumte. In jedem Menschen soll man Gott und die Schöpfung lieben, und so sollen auch der Rabbi und seine Frau beim Verkehr in der Nacht zum Sabbat ihre Gedanken auf Gott lenken und gemeinsam beten.

In beiden Geschichten sehnt sich der Mann nach der Geliebten, de dadurch spirituell bei ihm ist (im arabischen Sprachraum haben wir die von Qais, dem »Madschnun Laila«, dem von Laila Besessenen) und an seiner Lebenswende darum Anteil hat. Ich habe auch das Gefühl, eine Frau, der mich zu nähern mir nicht gelang und an die ich jahrelang jeden Morgen dachte, habe mich beeinflusst: Sie hat meinen Weg mitgestaltet, ohne es zu wissen, diesen Weg, der mit ihr und ganz ohne sie zu kennen ein anderer gewesen wäre. Nirwana und Samsara entspechen einander, und aus dem Nichts entspringt vieles.   

 

Illustrationen: oben rechts Ava Gardner als die barefoot contessa; ein Ritter in der Kyburg bei Winterthur; ein Friedhof in Südfrankreich.

 

 

 

 

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