Der Mann, der im Totenreich war

Ein Märchen aus Mexiko als Beitrag zum Ostersonntag, an dem ja nach christlichem Glauben Jesus von den Toten auferstand. Am Montag ging er dann mit Jüngern spazieren. Das Märchen vom Mann, der im Totenreich war, trägt viele Züge von Jenseitsgeschichten aller Völker, und es ist ziemlich humorvoll. 

Am Anfang steht ein Tabu. Ein Mann darf keinen Kakaostrauch berühren, sonst muss er sterben. Zwei Mal rettet ihn gerade noch der Medizinmann, beim dritten — der Mann war besoffen und berührte einen Kakaostrauch — ging es nicht mehr.

sunup2Da ist der Mann traurig heimgegangen, hat sich hingelegt und ist gestorben. Und nachdem er gestorben war, ist er wieder aufgestanden, hat sich einen Sack zum essen mitgenommen und hat sich auf den Weg zum Meer gemacht. Und er ist gegangen und gegangen, und dann ist er an ein Meer gekommen. Am Meer aber hat ein Seehund auf ihn gewartet, und der hat ihn auf seinen Rücken genommen und ist mit ihm zur Insel der Toten geschwommen. Wie er an der Insel der Toten angekommen ist, hat man gerade die Sonne aufgehen sehen, und der Mann hat beobachtet, dass aus dem Seehund ein Mensch wird. Und in dem Menschen hat er seinen verstorbenen Vater erkannt. »Grüß dich«, hat der Vater gesagt, »komm nur mit in unser Dorf. Du wirst es gut bei uns haben.«

Das ist wie eine Nahtoderfahrung. Der »Tote« lässt seinen Körper zurück und bewegt sich fort, als Seele. Oft geleiten enge Angehörige sie in die andere Welt — hier der Vater. Und die andere Welt ist so ähnlich wie diese Welt. Im Dorf der Toten stößt der Mann auf seine erste Frau, sie leben fröhlich zusammen, und so »ist einige Zeit vergangen«. Dann wird es kurios: Im Dorf feiert man ein Fest. Der Oberhäuptling sagt zu unserem Mann: »Was tust du denn hier? Du solltest gar nicht hier sein.« Woher dieses komische Tabu käme? Ein kleiner Vogel gibt zu, verantwortlich zu sein. Er wollte nicht, dass sein Kakaobaum dauernd geplündert würde. Der Oberhäuptling sagt, der Mann habe ein anderes Tabu: Er dürfe nicht niesen, während er uriniere. Ach, das habe er verwechselt, sagt reumütig der Vogel, der dazu verurteilt wird, den Mann zurückzubringen. Er hebt ihn hoch und trägt ihn zurück auf sein Lager im alten Dorf.

dreams6Auch das erinnert an die Nahtoderfahrungen: Deine Zeit ist noch nicht da, du musst zurück, erfahren die Zeugen. Nahtoderfahrung ist eigentlich Unsinn; die meisten Leute waren wirklich kurzzeitig tot, es sind Todeserfahrungen, und jemand sagte in einem Interview, der Begriff sei so gewählt worden, um die Wissenschaft zu beruhigen.

Gleich erzählte er der Mann die Geschichte seiner Frau, und als diese sie nicht glauben wollte, wies er sie auf seinen drei Wochen alten Bart hin. In anderen Geschichten entspricht eine Nacht im Totenreich sieben Jahren (etwa im Rip van Winkle von Washington Irving). Oder zwanzig Jahren. Die dem, der sie erlebt, auch so lange vorkommen.

Nun hat der Mann es bald einmal wieder in der Nacht versucht, und er hat absichtlich einen Kakaostrauch angerührt, aber es ist nichts passiert. Doch später einmal, als er erkältet war, hat er beim Urinieren niesen müssen, und in der Nacht darauf ist er wieder gestorben. Und diesmal war er endgültig tot. 
So hat man mir diese Geschichte erzählt.   

Das erinnert uns an die Kadambini aus einer Erzählung von Tagore, die ein zweites Mal stirbt. Eines ist ber überall gleich: Wer im Totenreich war, kann nicht mehr weiterleben wie zuvor. Er oder sie ist gezeichnet, verändert sein/ihr Leben. Pim van Lommel hat das in einer großen Studie belegt, und Carlo Ginzburg hat es für die Folklore nachgewiesen. Wer drüben war, vergisst das nie und fühlt sich hier wie ein Exilant. Ginzburg schrieb in seinem Buch Hexensabbat über ein allen Mythen gemeinsames Thema:

die Reise ins Jenseits, die Rückkehr aus dem Jenseits. Dieser elementare Erzählkern hat die Menschheit Jahrtausende hindurch begleitet … Erzählen bedeutet, hier und jetzt mit einer Autorität zu sprechen, die sich daraus ableitet — buchstäblich oder metaphorisch — dort und damals gewesen zu sein … die Matrix aller möglichen Erzählungen.

Ginzburg ist großartig. Ein Interview mit ihm findet ihr hier, es ist zwar schon 20 Jahre alt, vermittelt aber das Bild eines Wissenschaftlers, wie er sein sollte.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.