Eine andere Welt

Vor 40 Jahren, ich erinnere mich, fuhren wir zu viert im Bus heim in »unsere« Wohngemeinschaft, die WG in der Puchheimer Bäumlstraße, nachdem wir ein Konzert von Hannes Wader gesehen hatten. Wir waren selig und schenkten jedem der anderen wortlos dasitzenden Mitfahrer ein Stück Schokolade, weil die Welt besser und freundlicher werden musste.

Zwanzig Jahre später radelte ich mit anderen im Kollektiv den Corso Roms entlang, und wir hatten Schilder, auf denen stand: »Un 085altro mondo è possibile!« Und heute, wiederum zwanzig Jahre später, denke ich noch genauso. Eine andere Welt ist möglich! Doch man verliert ein wenig den Glauben an die Menschheit. Dass das öffentliche Leben einmal ruhen würde, fast alle Flugzeuge am Boden stünden, die Autobahnen kaum genutzt würden — das kommt unseren früheren kühnsten Träumen nah, übertrifft sie sogar. Aber möglich war das nur unter Druck. Als freier Entschluss als Folge von Nachdenken wäre das nie möglich gewesen. Nicht einmal die Drohung, das Erdklima würde aus dem Ruder laufen und den Erdball unbewohnbar machen, hatte Wirkung. Die Regierungen und die Bevölkerungen regierten darauf nicht oder nur zögernd. Und welche härtere Drohung wäre denkbar gewesen? Der Mensch ist  bequem und denkt, dass schon ein Wunder geschehen würde oder: nach mir die Sintflut!

Auch unsere Aktionen damals in Rom waren sinnlos. Die Wirkung war null. Wer Rad fährt, kann sich allerdings ausmalen, wie eine andere Welt aussehen könnte. Dazu muss ich nur Fahrradhistoriker Steisbein zitieren, der in meinem Epos Das Jahrhundertrennen zu Rudi sagt:

Ich war einmal mit einem Radlerfreund, nem guten Fahrer
in Europas Fahrradhauptstadt, in Ferrara,
gelegen von Venedig, der Geliebten, im Südwesten;
der Stadt inmitten Mauern, voller Kirchen, mit Palästen
in der etwas verschlafenen, oft nebeligen Ebene des Po,
weswegen man gemütlich da im Flachen fährt und wo
Studenten, Anwälte, Husfrauen, alte Fraun mit der bicicletta
gelassen und auch schnell die Stadt durchquern bei jedem Wetter.
Man hält, wenn auf der Piazza man den Freund erspäht,
gleich an und grüßt ihn, fragt, wie es ihm geht. 
Nirgendwo hab diesen Frieden schöner ich empfunden
als dort in der Romagna, langsam gehn hin die Stunden,
wenn du dich langsam mit dem Rade fortbewegst
und deine Ruhe stets auf andre überträgst.
Entschuldig‘ meine lange Rede und die Wut: Tod unsrer Hektik!
Verstoßen wir die Massenwelt, den Motor, die Elektrik.
Es wird nicht gehn, außer wir werden alle Eremiten
oder selbst Terroristen, Gott bewahr, maschinenstürmende Banditen   
Wir brauchen einfach ganz für uns die Republik
des radfahenden Volks, wär das nicht schick?

Die Nachdenklichen haben  nichts zu sagen, es setzten sich durch die Geschäftemacher, die immer noch etwas in den dichten Markt hineinpressen und die Politiker mit Profiten und dem Wirtschaftswachstum locken. Ein paar Flüge mehr geht noch, eine neue Startbahn ist kein Problem, das Kreuzfahrtschiff mit 5000 Leuten an Bord wird gebaut, noch ein Hotel an die türkische Ostküste und eine Zufahrtsstraße und einen kleinen Flughafen … und die Konsumenten sind halt gedankenlos und arglos wie die Kinder, du kannst sie mit einer Expedition auf den Mars schicken und sie kapieren nichts, die tun ihre Bullshit jobs, die so gut bezahlt werden, dass immer das neueste VW-Modell dabei herausspringt und ein Flug auf die Malediven. Soll die Welt deshalb untergehen? Nein, wo es 50 Gerechte gibt, kann eine Stadt gerettet werden.

Jetzt herrschen Heulen und Zähneklappern, das biblische Motiv. Zahlen werden wie immer die Schwachen: die Freiberufler, die Pflegekräfte, die Verkäuferinnen in der Boutique, die Friseurinnen, die Tourist guides und alle im Tourismus sowie die Nutten, und sind nicht alle Nutten des business?

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