Das Steinchen
Kleine Geschichten helfen weiter, wenn jemand nicht weiter weiß. Eine rührende Szene habe ich in dem Buch Wie Phönix aus der Asche von Irina Tweedie gefunden, die andere im Film La Strada von Federico Fellini. Beide Male bekommt ein Mensch einen Vorschlag, worin der Sinn liegen könnte, und beide Male wird dadurch jemand befreit und geht hinaus und lebt auf.
Irina Tweedie erinnert sich auf den letzten Seiten ihres Buchs an ihren verstorbenen Guru, Bhai Sahib, und da fällt ihr ein Beispiel für seine Güte ein.
Ich erinnere mich besonders an einen Tag von leuchtender Klarheit und schimmernder Transparenz, als er draußen saß und eine indische Frau aus einem Dorf zu ihm kam.
Sie war klein, sehr dünn, ihr Gesicht voller Runzeln und verschrumpelt, als sei sie von der gnadenlosen Sonne und dem heißen Wind der Tiefebene ausgetrocknet worden.
Sie erzählte eine endlose, kummervolle Litanei ihrer Schicksalsschläge: Krankheiten, Armut, der Tod ihres Ehemannes und vieler ihrer Kinder. Jetzt war sie allein, nutzlos, niemand brauchte sie, für sie gab es keinen Grund mehr zu hoffen, zu leben …
Und sie kam mit der Frage heraus, die ihre zitternden Lippen zu verbrennen schien:
»Maharaj, warum hat Gott diese Welt so voller Not erschaffen? Warum hat er mich geschaffen, um all dieses Leid zu ertragen?«
Ich sah, wie er sich nach vorn beugte, ein schimmerndes Licht in den Augen, das Licht des Mitleids, das ich so gut kannte und so sehr liebte. Seine Stimme war sanft, als er antwortete:
»Warum ER die Welt geschaffen hat? Damit du darin leben kannst! Warum ER dich geschaffen hat? ER ist allein: ER braucht dich!«
Nie werde ich das breite, selige Lächeln auf diesem faltigen, ausgemergelten Gesicht vergessen, als die alte Frau davonging, glücklich in dem Wissen, dass sie nicht allein war, nicht wirklich, denn Gott brauchte sie, um Ihm Gesellschaft zu leisten, weil ER auch allein war …
(übersetzt von Sabine Reinhardt)
In dem Film La Strada (1954) von Fellini findet der Hochseilartist einen guten Kniff, die traurige Gelsomina wieder fröhlich zu stimmen. Gelsomina (Giuletta Masina) ist verzweifelt und ruft aus:
Ich bin niemandem nutze. Das Leben macht mir eine Freude mehr.
Hier gibt’s die Szene auf Youtube, in deutscher Synchronisation. Ich habe meine Version vom Italienischen, darum klingt es etwas anders.
Il Matto heißt der Verrückte, der Beiname des Artisten (Richard Basehart), der immer lacht und wie unter Drogen wirkt. Er fragt Gelsomina, warum sie nicht weggegangen sei und wie Zampanò (Anthony Quinn) sie behandle? Schlecht, meint sie; wenn sie weglaufe, hagelt es Schläge. Il Matto schlägt vor: Vielleicht mag er dich? Es gebe Hunde, die könnten nur kläffen und bellen, auch wenn sie lieb sein wollen. Und dann sagt er:
Alles, was da ist, dient zu etwas. Nimm diesen Stein. Auch dieser kleine Stein (questo sassetto) hat seinen Sinn, welchen genau, gut, das weiß ich nicht. Der Himmlische Vater weiß alles. Auch dieser Stein dient zu etwas, und wäre es nicht so, dann wäre alles sinnlos. Ja, auch du bist zu etwas gut!
Gelsomina lebt auf und hält eine Rede. Wenn sie nicht bei Zampanò wäre, dem Grimmigen, wer wäre es sonst? Sie hält das kleine Steinchen und schaut es an und läuft vergnügt davon. Und mehrmals in der zweiten Hälfte des Films hebt sie den Stein hoch und schaut ihn wissend und lächelnd an, und jedes Mal wissen wir, dass sie sich ihres Werts versichert, dass sie weitermachen wird.
Auch in dem Film Roma città aperta findet Francesco die richtigen Worte, um die erschöpfte Anna wieder auf Kurs zu bringen. Es müssen einfache Worte sein, überzeugend geäußert, damit sie jemanden aus dem Tal der Traurigkeit holen können.