Pech

Zum ersten Mal etwas von Adalbert Stifter gelesen (1805-1868): die Erzählung Granit. Und gleich trat mir eine Geschichte entgegen, die ich abtippen muss. Der Großvater erzählt sie seinem Enkel, der traurig war, weil er Pech an den Füßen gehabt hatte, klebriges Pech, heute als Wagenschmiere bekannt, die ihm der Pechbrenner verabreicht hatte. Von dem schwarzen schmierigen Zeug, das kaum mehr wegzukriegen ist, stammt wohl auch unsere Redewendung vom Pech haben. Der Großvater aber ist gütig und tröstet das Kind.

Er erzählt also:

303»In allen diesen Wäldern und in allen diesen Ortschaften hat sich einst eine merkwürdige Tatsache ereignet, und es ist ein großes Ungemach über sie gekommen. … Es war einmal in einem Frühlinge, da die Bäume kaum ausgeschlagen hatten, da die Blütenblätter kaum abgefallen waren, dass eine schwere Krankheit über diese Gegend kam, und in allen Ortschaften, die du gesehen hast, und auch in jenen, die du wegen vorstehender Berge nicht hast sehen können, ja sogar in den Wäldern, die du mir gezeigt hast, ausgebrochen ist. Sie ist lange vorher in entfernten Ländern gewesen, und hat dort unglaublich viele Menschen dahin gerafft.

Plötzlich ist sie zu uns herein gekommen. Man weiß nicht, wie sie gekommen ist: haben die Menschen sie gebracht, 053ist sie in der milden Frühlingsluft gekommen, oder haben sie Winde oder Regenwolken daher getragen: genug sie ist gekommen, und hat sich über alle Orte ausgebreitet, die um uns herum liegen. Über die weißen Blütenblätter, die noch auf dem Wege lagen, trug man die Toten dahin, und in dem Kämmerlein, in das die Frühlingsblätter hinein schauten, lag ein Kranker, und es pflegte ihn einer, der selbst schon krankte. Die Seuche wurde die Pest geheißen, und in fünf bis sechs Stunden war der Mensch gesund und tot, und selbst die, welche von dem Übel genasen, waren nicht mehr recht gesund und recht krank, und konnten ihren Geschäften nicht nachgehen. Man hatte vorher in Winterabenden erzählt, wie in anderen Ländern eine Krankheit sei, und die Leute an ihr wie an einem Strafgerichte dahin sterben; aber niemand hatte geglaubt, dass sie in unsere Wälder herein kommen werde, weil nie etwas Fremdes zu uns herein kömmt, bis sie kam.

In den Ratschlägerhäusern ist sie zuerst ausgebrochen, und es starben gleich alle, die an ihr erkrankten. Die Nachricht verbreitete sich in der Gegend, cimmulh7die Menschen erschraken, und rannten gegen einander. Einige warteten, ob es weiter greifen würde, andere flohen, und trafen die Krankheit in Gegenden, in welche sie sich gewendet hatten. Nach einigen Tagen brachte man schon die Toten auf den Oberplaner Kirchhof, um sie zu begraben, gleich darauf von nahen und fernen Dörfern und von dem Marktflecken selbst. Man hörte fast den ganzen Tag die Zügenglocke läuten, und das Totengeläute konnte man nicht mehr jedem einzelnen Toten verschaffen, sondern man läutete es allgemein für alle. Bald konnte man sie auch nicht mehr in dem Kirchhofe begraben, sondern man machte große Gruben auf dem freien Felde, tat die Toten hinein, und scharrte sie mit Erde zu.

DSCN5471Von manchem Hause ging kein Rauch empor, in manchen hörte man das Vieh brüllen, weil man es zu füttern vergessen hatte, und manches Rind ging verwildert herum, weil niemand war, es von der Weide in den Stall zu bringen. Die Kinder liebten ihre Eltern nicht mehr und die Eltern ihre Kinder nicht, man warf nur die Toten in die Grube, und ging davon. Es reiften die roten Kirschen, aber niemand dachte an sie, und niemand nahm sie von den Bäumen, es reiften die Getreide, aber sie wurden nicht in der Ordnung und Reinlichkeit nach Hause gekommen, wie sonst, ja manche wären gar nicht nach Hause gekommen, wenn nicht doch noch ein mitleidiger Mann sie einem Büblein oder Mütterlein, die allein in einem Hause gesund geblieben waren, einbringen geholfen hätten.

Eines Sonntags, da der Pfarrer von Oberplan die Kanzel bestieg, um die Predigt zu halten, waren mit ihm sieben Personen in der Kirche; die andern waren gestorben, oder waren krank oder bei der Krankenpflege, oder aus Wirrnis oder Starrsinn nicht gekommen. Als sie dieses sahen, brachen sie in ein lautes Weinen aus, der Pfarrer konnte keine Predigt halten, sondern las eine stille Messe, und man ging auseinander. Als die Krankheit ihren Gipfel erreicht hatte, als die Menschen nicht mehr wussten, sollten sie in dem Himmel oder auf der Erde Hilfe suchen, geschah es, dass ein Bauer aus dem Amischhaus von Melm nach Oberplan ging.

Auf der Drillingsföhre saß ein Vöglein und sang:

Kohlmeise__LoResEsst Enzian und Pimpernell,
Steht auf, sterbt nicht so schnell.
Esst Enzian und Pimpernell,
Steht auf, sterbt nicht so schnell.

Der Bauer entfloh, er lief zu dem Pfarrer nach Oberplan und sagte ihm die Worte, und der Pfarrer sagte sie den Leuten. Diese taten, wie das Vöglein gesungen hatte, und die Krankheit minderte sich immer mehr und mehr, und noch ehe der Haber in die Stoppeln gegangen war, und ehe die braunen Haselnüsse an den Büschen der Zäune reiften, war sie nicht mehr vorhanden. Die Menschen getrauten sich wieder hervor, in den Dörfern ging der Rauch empor, wie man die Betten die und andern Dinge der Kranken verbrannte, weil die Krankheit sehr ansteckend gewesen war; viele Häuser wurden neu getüncht und gescheuert, und die Kirchenglocken tönten wieder friedfertige Töne, wenn sie entweder zu dem Gebete riefen oder zu den heiligen Festen der Kirche.«

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