Erinnerungen einer Überflüssigen

Vor 100 Jahren ging Lena Christ aus dem Leben, das nach schwerem Beginn schließlich doch frendlich mit ihr war. Ihr Buch Erinnerungen einer Überflüssigen machte sie zu einer der beachtetsten Autoren der Wendezeit zum 20. Jahrhundert. Als ich im Januar in Bayern war, las ich das Buch, weil es etwas Bayerisches sein sollte. Harter Stoff, das steckt man nicht so schnell weg.

DSCN4909Da ist nicht alles schlimm, aber das meiste. Die Leni wächst schön mit den gütigen Großeltern in einem Dorf bei München auf, das war um 1885 (geboren ist sie 1881). Ihren Vater kennt sie nicht, sie war also ein uneheliches Kind, und das war ein Makel fürs Leben. Auch die Mütter wollten von ihnen nicht viel wissen — weil sie sie an eine unschöne Liebesgeschichte erinnerten, weil sie gesellschaftlich entehrt waren (die Kirche sorgte dafür: Sex nur zum Kinderkriegen, Kinder nur in der kirchlich abgesegneten Ehe, bis dass der Tod die beiden scheidet, der ganze Schwachsinn, in Bayern todernst genommen), weil sie versorgt werden mussten und die Mütter solo kein Geld hatten. Lena Christ:

Geliebt hat mich meine Mutter nie; denn sie hat mich weder je geküsst, noch mir irgendwelche Zärtlichkeit erwiesen; jetzt aber, seit der Geburt ihres ersten ehelichen Kindes, behandelte sie mich mit unverhehltem Hass. Jede, auch die geringste Verfehlung, wurde mit Prügeln und Hungerkuren bestraft, und es gab Tage, wo ich vor Schmerzen mich kaum rühren konnte.

003Oskar Maria Graf hat die grobe Welt auf den bayerischen Dörfern auch geschildert. 1985 wurde das autobiografische Buch Herbstmilch von Anna Wimschneider (1919-1993) ein großer Erfolg, das 50 Jahre nach dem Buch von Lena Christ spielt: Anna ist 1927 acht Jahre alt und muss den Haushalt eines Bauernhofes führen, heiratet mit 21 Jahren und wird, als ihr Mann in den Krieg gehen muss, zehn Jahre lang von ihrer Schwiegermutter gequält. Ach, im Schwarzwald war es ähnlich. Konnte eine Frau ihrem Mann keinen Nachkommen schenken, war sie nichts mehr wert und wurde herumgestoßen wie ein Stück Dreck.

Die Lena jedenfalls war eine ansehnliche Person, geht in einen Haushalt, dann zurück zur Mutter, die sie 004zum Kloster überredet, aber die Nonnen sind heuchlerische böse Schlangen, die Leni haut wieder ab und landet in einer Gastwirtschaft  an der Isar, wo man sie gut leiden kann, und diverse junge Männer werben um sie. Sie sucht sich den besten aus (denkt sie), langt dabei aber in die Scheiße, um Bauernjargon zu benutzen. Ihr Bräutigam trinkt und trinkt immer mehr, fällt über sie her, obwohl sie schwanger ist, hängt ihr vier Kinder an, wird dann verrückt und landet in der Irrenanstalt, während sie mit den Kindern auf der Straße sitzt. Na toll. Letzter Satz, irgendwie pflichtgemäß abgespult:

Doch das Leben hielt mich fest und versuchte mir zu zeigen, dass ich nicht das sei, wofür ich mich oft gehalten, eine Überflüssige.

Wie schrecklich! Man möchte mit Brecht ausrufen:

Ihr aber, wenn es soweit sein wird,
Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist,
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.   

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