Die ganze Ewigkeit
Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), der Autor des Stücks Nathan der Weise, machte sich in seinem Traktat Die Erziehung des Menschengeschlechts von 1780 Gedanken über die Reinkarnation, und das Interessanteste steht in den Paragraphen 94 bis 100, was die letzte Bemerkung ist: »Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?«
Mehr muss man nicht wissen. Die Seele ist unsterblich. Wir haben eine Menge Zeit, uns zu vervollkommnen, und was heute nicht geht, das packen wir morgen an (in 50 Jahren unserer Zeit, vielleicht in 100; die Welt könnte noch ein paar tausend Jahre fortdauern).
§ 94
(…) Aber warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein?
§ 95
Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? Weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel?
§ 96
Warum könnte auch ich nicht hier bereits einmal alle die Schritte zu meiner Vervollkommnung gethan haben, welche bloß zeitliche Strafen und Belohnungen den Menschen bringen können?
§ 97
Und warum nicht ein andermal alle die, welche zu thun uns die Aussichten in ewige Belohnungen so mächtig helfen?
§ 98
Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viel weg, dass es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnt?
§ 99
Darum nicht? — Oder weil ich es vergesse, dass ich schon da gewesen? Wohl mir, dass ich das vergesse! Die Erinnerung meiner vorigen Zustände würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben. Und was ich auf jetzt vergessen muss, habe ich denn das auf ewig vergessen?
§ 100
Oder weil so viel Zeit für mich verloren gehen würde? — Verloren? — Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?
Schöne Schluss-Sentenz. Hätte auch gut in mein Buch Fomo gepasst. Im Koran geht es in Sure XVI, Abschnitt 70 um Reinkarnation, und da heißt es, in unserer Sprache:
Es ist Gott, der dich erschuf und deine Seele beim Tod mit fortnimmt; und unter euch wird es einige geben, die in ein zartes Alter zurückgeschickt werden, so dass sie nichts wissen, nachdem sie viel gewusst hatten, denn der Herr ist allwissend und allmächtig.
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Illustrationen: oben ein multiples Selbstporträt, zufällig entstanden in Knokke, Belgien; unten ein Foto im Maskenmuseum Ambalangoda, Sri Lanka.