Schicksal/Fügung

Meine Schwester ging zum Tanzen, und jemand warf ihr vor, sie sei unverantwortlich ihrer Mutter gegenüber, zu der sie am nächsten Tag gehen wollte. Dass es sie erwischt (durch die Krankheit, die sie sogar schon hatte!), wäre so extrem unwahrscheinlich, dass man es fast als Schicksal bezeichnen müsste. Man müsste es hinnehmen und könnte es annehmen, aber niemand denkt mehr so. 

Man findet sich mit nichts mehr ab. Ein Schuldiger muss her; jemand hat was falsch gemacht und muss zur Rechenschaft gezogen werden. Muss vor Gericht. Sogar im einstens katholischen Italien ist das so. Eine Untersuchung wird eingeleitet. Es wäre vielleicht sowieso passiert, doch dieser Gedanke existiert nicht. Etwas ist passiert, ein Mensch ist gestorben, und man will das nicht akzeptieren. Der Mensch spielt sich zum Richter auf. Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! heißt es in der Bibel. Wunderbar ist das Buch des Vergebens von Desmond und Mpho Tutu. Vergebt!

Schalten wir schnell ein Gedicht von Johann Gottfried Herder (1744-1803) ein:

Nicht durch Streben allein
erlangt man Ehren und Reichtum;
Mehr als alle Gewalt
fordert ein günstiges Glück.
Hingen hundert der Künste
dir auch an jeglichem Haupthaar;
alle hangen umsonst,
kränzet das Schicksal sie nicht.

Du kannst supertalentiert sein und auch sonst alles richtig machen, aber es bringt nichts, wenn du nicht Glück hast. Lebe deinen Traum; du kannst alles erreichen, was du willst, heißt es in unserer (amerikanisch geprägten) Zeit der Machbarkeit. Frisch voran, Bescheidenheit schadet nur. Heute sollen alle talentiert sein, und allen stehn alle Wege offen. Doch wenige kommen durch; nicht alle können reüssieren, weil man dazu andere Qualitäten braucht als Fleiß, Willen und Durchsetzungskraft. Man braucht ein wenig Demut und die Hoffnung, auf einen Platz zu kommen, auf dem man seine Gaben nutzbringend einsetzen kann (für andere, nicht für sich selbst).

Man kann seine Träume verwirklichen, und es kann der falsche Weg gewesen sein. Wer alles hinkriegt, nimmt es für selbstverständlich und bleibt dumm. Am Scheitern wächst man. Besser scheitern! riet Samuel Beckett. Nicht alle können alles schaffen, nicht alle sind Genies, und etwas greift womöglich von außen ein, was man getrost Schicksal oder Fügung nennen darf. Etwas hat sich so gefügt; es passt alles ineinander, und der Sinn dahinter geht uns eines Tages auf.

 

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