Die Verrückte

Da heute der Geburtstag von Guy de Maupassant ist — er kam 1850 auf Schloss Miromesnil zur Welt, im Norden Frankreichs, und starb schon 1893 —, muss ich einen Artikel einschieben, bevor meine Rückfahrt vom vergangenen Samstag zur Sprache kommt. Von Maupassant hatte ich ein dünnes Bändchen dabei, die Contes de la bécasse, und eine der 17 Erzählungen hat mich angesprochen: die Verrückte (la folle). Dabei habe ich nur 4 Geschichten lesen können; man nimmt immer zu viel zum Lesen mit. 

Das sind alles melancholische, rätselhafte kleine Erzählungen, die immer ein anderer vorbringt, auf den das Los fällt. Der alte Baron des Ravots kann nicht mehr aus dem Haus, und manchmal schießt er vom Rollstuhl aus ein paar Schnepfen tot (das sind die bécasses), und ansonsten liest er. Und lässt sich unterhalten. (Viel spricht dafür, dass die Episoden sich irgendwo ereignet haben und literarisch vom Autor etwas aufbereitet wurden.)

Mathieu d’Endolin erinnert sich gerade wegen der Schnepfen an eine düstere Geschichte aus dem Krieg, vermutlich dem von 1870/71 zwischen Frankreich und deutschen Ländern unter der Führung Preußens. Er habe damals im Dorf Cormeil gelebt, Tür an Tür mit einer bettlägerigen Frau. Diese hatte im Alter von 25 Jahren in einem Monat den Vater, den Ehemann und das neugeborene Kind verloren. Sie wurde verrückt. Sechs Wochen lag sie im Delirium; wenn man ihr aufhelfen wollte, schrie sie, und schließlich blieb sie reglos liegen, 15 Jahre lang. Dann rückten die Preußen ein. Es war eiskalt draußen.

Im Haus des d’Endolin werden 17 Mann und ein Offizier einquartiert, den die unsichtbare starre Frau irritiert. Man muss lachen, wenn Maupassant den Preußen Französisch reden lässt (das wird nun nur genießen können, wer zufällig die Sprache unseres Nachbarn kennt). Er befiehlt der Frau:

»Je vous prierai, matame, de fous lever et de tescendre pour qu’on fous foie.« — Sie solle aufstehen, damit man sie sehen könne. Keine Reaktion. Der Offizier beharrt: Er wolle keine Unverschämtheit dulden. Wenn sie sich nicht selber erheben wolle, werde er Wege finden, ihr einen »Spaziergang« zu ermöglichen. Sie schweigt. Er nimmt es für Verachtung. Wenn sie morgen nicht aufgesrtanden sei …

Am nächsten Tag schreit die Kranke, als ihre Helferin sie ankleiden will. Diese bekniet die Soldaten: Das ist eine unglückliche Frau. Nichts zu machen. Ein kleiner Trupp dringt ein und trägt die Verrückte auf ihrer Matratze fort. Der Offizier mit zynischem Ton:

»Nous ferrons pien si fous poufez bas fous hapiller toute seule et faire une bétite bromenate.« Wenn sie sich nicht ankleiden wolle, würden sie (die preußischen Soldaten) dafür sorgen, dass sie einen kleinen Spaziergang machen könne. Die Abordnung entfernt sich in Richtung Wald von Imauville.

Schnee fällt Tag und Nacht. Der Erzähler denkt an die arme Frau. Die Helferin stirbt im Winter, und dann kommt der Frühling. Was haben sie mit der armen Frau angestellt? Es wird Herbst, die Schnepfen fliegen massenhaft, Herr d’Endolin schießt fünf ab, und ein Vogel landet in einem Graben. Er will ihn holen und stößt auf einen Schädel. Sofort denkt er an die Verrückte.

Und dann verstand ich plötzlich, ich erriet alles. Sie hatten sie auf der Matratze in dem kalten und verlassenen Wald zurückgelassen; und, getreu ihrer fixen Idee, hatte sie sich unter dem leichten Schneefall sterben lassen, ohne einen Artm oder ein Bein zu bewegen. Dann hatten die Wölfe sie aufgezehrt.

Der letzte Satz:

Ich bat innig darum, dass unsere Kinder nie einen Krieg erleben sollten.

Warum erzähle ich diese traurige Geschichte nach? Weil es 45 Jahre danach wieder einen Krieg zwischen den Nachbarn gab, einen noch fürchterlicheren, und 25 Jahre nach dessen Ausbruch (1914) den nächsten, 1939. Aber vielleicht haben wir das alles nun überwunden.

Und auch wegen dieses letzten Satzes. Krieg ist grausam, hat aber (theoretisch) auch Gesetze. Eine Kranke dem Tod zu überantworten, verstößt gegen die völkerrechtlichen Bestimmungen. Nicht alle Soldaten hätten so gehandelt. Leider sind es wieder einmal die Deutschen mit ihrem Fanatismus und ihrem widerwärtigen Zynismus (der »Spaziergang«), die eine traurige Rolle spielen. Die Massaker des Zweiten Weltkriegs und der millionenfache Mord an den Juden kamen ja nicht aus dem Nichts.

 

 

 

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