Der Mond schaut zu

Eine kurze Erzählung von Anton Tschechow (1860-1914) muss ich hier bringen, weil sie so gut ist. Sie schließt an einen Beitrag aus dem August an, doch wenn ich auf ihn verlinke, verrate ich die Pointe. Also erst die Geschichte, danach das zugehörige Stück. Die Erzählung heißt Die Sommerfrischler, lasst euch überraschen. Eine Sommerfrische hieß früher ein Erholungsort für den Sommerurlaub.

DSCN2932Auf dem Bahnsteig einer Sommerfrische spazierte ein jungverheiratetes Pärchen auf und ab. Der Mann hielt die Frau um die Taille, sie schmiegte sich an ihn, und beide waren glücklich. Hinter Wolkenfetzen blickte der Mond hervor und verdüsterte sich: wahrscheinlich war er neidisch auf sie und verdrossen über seinen langweiligen, niemand nützlichen Zölibat. Die regungslose Luft war gesättigt vom Duft des Flieders und des Faulbeerbaums. Irgendwo jenseits der Schienen erklang der Ruf des Wachtelkönigs.

»Wie schön, Sascha, wie schön!« sagte die Frau. »Wahrhaftig, man könnte glauben, dass man das alles nur träumt. Schau nur, wie behaglich und freundlich das Wäldchen dort aussieht! Und wie hübsch diese soliden und schweigsamen Telegrafenpfosten sind. Sie beleben die Landschaft, Sascha, und erzählen, dass dort irgendwo Menschen sind … und die Zivilisation. … Und gefällt es dir nicht auch, wenn der Wind das Geräusch eines fahrenden Zuges schwach an dein Ohr trägt?«

»Ja  … aber was hast du denn für heiße Hände? Das kommt davon, dass du dich aufregst, Warja … Was hat man uns heute zum Abendessen vorbereitet?«
»Kalte Gurken-Fleisch-Suppe und Hühnchen … Das Hühnchen reicht für uns beide. Und für dich hat man aus der Stadt Sardinen und gedörrten Stör mitgebracht.«

Als hätte er Tabak geschnupft, versteckte sich der Mond hinter einer Wolke. Das menschliche Glück erinnerte ihn an seine Einsamkeit, an sein einsames Lager hinter Wäldern und Tälern …

»Der Zug kommt!« sagte Warja. »Wie schön!«
In der Ferne zeigten sich drei feurige Augen. Der Stationsvorsteher der Bedarfshaltestelle trat auf den Bahnsteig heraus. Entlang den Schienen leuchteten hier und da Signallichter auf.

»Wir wollen den Zug abwarten und dann nach Hause gehen«, sagte Sascha und gähnte. »Wie schön leben wir miteinander, Warja, so schön, dass es kaum zu glauben ist!«

Geräuschlos kroch das dunkle Ungeheuer an den Bahnsteig heran und hielt.
An den schwach erleuchteten Wagenfenstern tauchten verschlafene Gesichter auf, Hüte und Schultern …
»Oh, oh« tönte es aus einem Wagen. »Warja und ihr Mann sind gekommen, uns zu empfangen. Da sind sie! Warenka! Waretschka! Ach!«
Zwei Mädchen sprangen aus dem Wagen und hängten sich Warja an den Hals. Hinter ihnen zeigten sich eine füllige ältere Dame und ein hochgewachsener hagerer Mann mit grauem Backenbart, des weiteren zwei Gymnasiasten, schwer beladen mit Gepäck, hinter den Gymnasiasten die Gouvernante und hinter der Gouvernante die Großmutter.

»Da sind wir, da sind wir, mein Freund!« begann der Herr mit dem Backenbart, indem er Sascha die Hand drückte. »Hast uns wohl längst erwartet! Hast wohl schon den Onkel gescholten, weil er immer nicht kam! Kolja, Kosta, Nina, Fifa … Kinder! Küsst euren Vetter Sascha! Wir kommen alle zu dir, mit der ganzen Brut, auf drei bis vier Tage. Ich hoffe, wir fallen dir nicht zur Last? Ich bitte dich jedenfalls: ohne alle Umstände!«

Als sie den Onkel mit der ganzen Familie erblickten, erfasste die Ehegatten Entsetzen. Während der Onkel redete und ihn abküsste, stieg in Sascha ein Phantasiebild auf: Seine Frau und er überlassen dem Besuch die drei Zimmer, die Kissen und die Decken; im Nu sind Stör, Sardinen und kalte Suppe verspeist; die Vettern reißen Blumen ab, vergießen Tinte und machen Lärm, die Tante erläutert ganze Tage lang ihre Krankheit (ein Bandwurm und Schmerzen in der Herzgrube) und die Tatsache, dass sie eine geborene Baronesse von Fintich ist …

Und schon blickte Sascha voller Hass auf seine junge Frau und flüsterte ihr zu:
»Die sind zu dir gekommen. … Hätte sie doch der Teufel geholt!«
»Nein, zu dir!« erwiderte sie, blass und ebenfalls voller Hass und Zorn. »Es sind nicht meine, sondern deine Verwandten.«
Und zu den Gästen gewandt, sagte sie mit verbindlichem Lächeln:
»Willkommen!«

DSCN2926Hinter seiner Wolke schwamm der Mond wieder hervor. Es schien, als lächle er; es schien, als sei es ihm angenehm, dass er keine Verwandten hatte. Sascha aber wandte sich ab, um sein verärgertes und verzweifeltes Gesicht vor den Gästen zu verbergen, und sagte, indem er seiner Stimme einen fröhlichen und wohlwollenden Ausdruck gab:
»Willkommen! Willkommen, meine teuren Gäste!«

Dieses Kleinod gehört natürlich zu Jerzy Wittlins Satire Verwandtenbesuch vom 20. August. Scheint ein Trauma im Osten zu sein. Totale Gastfreundschaft ist Pflicht, und das mag manchmal ausgenützt worden sein. Schön, wie Tschechow den Mond als stillen Beobachter und Kontrastmittel heranzieht, der (besser: die, auch im Russischen ist Mond weiblich: lunà) anfänglich neidisch ist und dann wieder froh darüber, dass sie am Himmel ihre Ruhe hat.

 

Quelle: Anton Tschechow, Dreizehn lustige Erzählungen, dtv zweisprachi, München 1992, S. 31-37. Übersetzt von Helmuth Dehio

 

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