Kleingläubige

Die beliebten kleinen Geschichten zum Nachdenken, die in Kreisen der Kirchen kursieren, sollten wirklich zum Nachdenken verleiten: zum kritischen wohlgemerkt. Es steckt vieles drin, doch vieles ist auch unausgegoren. Der Stadtpfarrer von St. Martin in Staufen schickte meiner Mutter zum Geburtstag eine Geschichte (die kriegen wohl alle betagten Geburtstagskinder), die Gottvertrauen heißt.Sie gibt mir Anlass zu einer Textkritik.

Gottvertrauen

065Es war einmal ein alter Mann, der in einem kleinen Dorf wohnte. Er war sehr arm, doch sogar Könige beneideten ihn zum sein schönes weißes Pferd. Viele hatten das Pferd bereits kaufen wollen, doch der Mann hatte dies immer abgelehnt.

Eines Morgens entdeckte der Mann, dass das Pferd nicht mehr im Stall stand. Das ganze Dorf kam und redete auf den Mann ein: »Was bist du doch für ein Dummkopf gewesen! Du hättest das Pferd verkaufen sollen, dann hättest du jetzt ein wenig Geld, um am Ende deines Lebensabends davon zu leben. Nun ist das Pferd gestohlen worden und du hast weder Geld noch das Pferd. Welch ein Unglück!«

Der alte Mann antwortete: »Das können wir nicht wissen. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass das Pferd nicht mehr im Stall steht. Alles andere sind Vorurteile. Ob es ein Unglück oder ein Segen ist, das wissen wir nicht, denn das, was wir sehen können, ist nur ein Fragment des Lebens, Wer weiß schon, was noch passieren wird?«

DSCN3022Vierzehn Tage später kam das Pferd plötzlich zurück und es kamen aus der Wildnis noch weitere zwölf weiße Pferde mit.

Die Leute im Dorf kamen zusammen und wunderten sich: »Alter, du hattest Recht. Das war wirklich kein Unglück, dass dein Pferd verschwunden ist. Jetzt sehen wir, welch ein Segen es gewesen ist!«

Der alte Mann antwortete: »Das können wir nicht wissen. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass mein Pferd zurückgekommen ist. Ob das Unglück oder Segen ist, das wissen wir noch nicht. Urteilt nicht, das lässt die Sinne erstarren.«

Gottvertrauen aber lässt oft ein Tor aufspringen, das den Weg in ungeahnte Weiten freigibt. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass die Wege des Lebens unendlich sind. Ein Weg kommt an sein Ende, aber ein anderer Weg hat gerade erst angefangen. Eine Tür schließt sich, eine andere tut sich auf. Man erreicht eine Bergspitze, doch es findet sich eine höhere Spitze anderswo.

Das Leben ist eine Reise. Was hinter einer Wegbiegung wartet, wissen nur diejenigen, die weitergehen.

 

Soweit die Geschichte, die am Ende gekrönt wird von einem Zitat: »Sei gesegnet im Atem der göttlichen Liebe.« (Albert Dexelmann)

Mir stellt sich die Frage, was die Geschichte mit dem Titel, mit Gottvertrauen zu tun hat? Gott kommt nicht vor. Der alte Mann sagt ja nur, dass wir nichts wissen, dass die Zukunft offen ist. Das erinnert an die banale Kontingenz in der Philosophie, die ebendas besagt: Wir wissen nicht, was passiert. Nach dem Verschwinden des Pferdes spricht der Besitzer wahre mahnende Worte. Vorurteile im dritten Absatz ist natürlich falsch; es müsste Spekulationen heißen. Die Leute quatschen zuviel und denken immerzu ans Geld.

Dann kommt das Pferd zurück mit zwölf weiteren. Super! Jetzt könnte sich der Mann freuen, aber er kommt wieder mit der alten Leier von ›Unglück oder Segen, wir wissen es nicht‹. Freut euch doch! Wenn man bei 12 neuen Pferden skeptisch ist, worüber kann man sich da noch freuen? Aus dem alten Mann spricht die Sorge des Wohlstandsbürgers vor der Zukunft: Freu dich nicht zu früh.

Zu sagen, dass wir nichts wissen, ist noch nicht Gottvertrauen. Hätte der Mann gesagt: »Alles wird gut werden, ihr werdet sehen, Gott sorgt dafür« — das wäre Gottvertrauen. Und im Kommentar, der an die Geschichte anschließt, steht das Gottvertrauen wieder irgendwie hilflos und verloren da, weil es in der Folge ganz weltlich heißt: Die Wege des Lebens sind unendlich.

Der Text ist typisch für die Religion unserer Tage. Auch Priester sind zurückhaltend, nicht einmal zu einem Bekenntnis zum Leben nach dem Tod lassen sie sich hinreißen; sie sind vorsichtig, kompromisslerisch und kleinmütig. Vermutlich wollen sie mit den Menschen im Gespräch bleiben und sie nicht durch Radikalität verprellen. Aber was ist das? Was ist Glauben ohne Radikalität? Soll nur die Werbung von Leidenschaft sprechen?

Dann sieht man die paar Gläubigen im Fernsehgottesdienst mit ihren Masken vorm Gesicht. Nicht einmal zu singen trauen sie sich. Welchen Sinn hat denn eine Stunde im Dienst einer höheren Macht, wenn man nicht glaubt, dass diese Macht uns vor einer Infektion beschützen kann? »O ihr Kleingläubigen!« würde Jesus ausrufen, und er hätte recht. Wenn man nur halb glaubt, sich betont weltlich gebärdet und die Leute mit Floskeln abspeist, treibt man ein hohles, leeres Gewerbe und könnte das auch sein lassen.

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