Ich arm, du reich

Michel Foucault (1926-1984) dringt nach der Schilderung der guten Taten von Pinel und Tuke, gestern beschrieben, zum Thema Armut und Fürsorge vor. »Es gibt eine bestimmte Menge an Elend, die man nicht auszulöschen vermag«, schreibt er, und: Jene Armut sei außerdem notwendig, weil sie »den Reichtum möglich macht«. Dazu musste mir ein witziger (aber tiefsinniger) Vierzeiler von Bertolt Brecht einfallen.

Er stammt aus dem Zyklus Alfabet, und zu R lesen wir:

Reicher Mann und armer Mann
Standen da und sahn sich an.
Und der Arme sagte bleich:
Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.

Foucault erläutert:

Die Klasse der Bedürftigen gestattet, weil sie arbeitet und wenig konsumiert, einer Nation, sich zu bereichern, ihre Felder, Kolonien, Minen zur Geltung zu bringen, Produkte herzustellen, die in der ganzen Welt verkauft werden. … In der merkantilistischen Ökonomie hatte der Arme, der weder Produzent noch Konsument war, keinen Platz. Als Müßiggänger, Vagabund, Arbeitsloser kam er nur für die Internierung in Betracht. Mit dem Aufkommen der Industrie, die kräftiger Arme bedarf, gehört er erneut zum Staatskörper. … Eines der Geheimnisse des Reichtums in der Konkurrenz zwischen den Nationen beruht daruf, dass man die Armen, Vagabunden, Ausgewiesenen und Emigrierten jeder Art benutzt … 

Denn die Bevölkerung ist die Quelle des Reichtums, der nämlich »mit einer wirklich vom Menschen ausgeführten Arbeit verbunden« ist. Die Armen brauchte man also, und Ende des 18. Jahrhunderts sah man ein, dass die Internierung nicht nützlich ist. Na wie schön, für das Luxusleben anderer zwölf Stunden am Tag für einen Hungerlohn zu schuften! War da nicht Nichtstun im Armenhaus besser für die Betroffenen? Die Sklavenarbeit (siehe Pauline Roland) machte die Arbeiterinnen und Arbeiter krank. Die Ausbeutung wurde erst 1867 klar von Karl Marx im ersten Band von Das Kapital analysiert. Charles Dickens prangerte das unmenschliche Leben der Fabrikarbeiter in seinen Romanen an. Der Reichtum ist mit der Gesundheit und dem Leben des armen Proletariats bezahlt worden, und 100 Jahre später beutete Mitteleuropa bedenkenlos Regionen auf anderen Kontinenten aus, deren Bewohner genauso schlimm behandelt wurden.

Was tun mit denen, die krank (geworden) sind und nicht (mehr) Arbeit ausführen können? Vom Mittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts richtete man Stiftungen ein, die aber Reichtümer dem Umlauf entziehen, wodurch die Produktivität sinkt, mehr Arme entstehen, was zu immer mehr Stiftungen führen müsse, bis diese »auf die Dauer allen Grund und Boden und alle Privatbesitztümer absorbieren würden«, befürchtete der französische Ökonom Turgot (1727-1781). Die Kosten der Fürsorge wurden zum Problem … allerdings des Staates, da die gewissenlosen Firmen nurihre satten Gewinne einstrichen). In Frankreich verzichtete man auf eine zentralistische Fürsorge und den Bau großer Hospitäler. Lieber wollte man die Familien unterstützen, in deren Umfeld der Kranke schneller genesen würde.

Privatwirtschaft und der Staat, Gewinne und Kosten, Armut und Recihtum — das beschäftigt uns morgen noch einmal.

 

 

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