Der Anfang von etwas

Eine Erzählung von Siegfried Lenz (1926-2014) weckte mein Interesse: Der Anfang von etwas, 1958. Könnte der Titel eines Romans von Graham Greene sein. Liest dich gut. Karge Sprache, sparsame Handlung, wenig Personen: der Seemann Harry, eine alte Freundin (Paula), eine heruntergekommene Kneipe, ein Kneipenwirt. Und der Anfang von etwas wird vielleicht auch für manipogo zu einem Anfang von etwas.

kraemer_helmut_gross_und_klein_2Harry Hoppe hat Zahnschmerzen. Schlimmer noch: Er hat sein Schiff verpasst. Harry geht also mit seinem Koffer und einem feuchten Karton in die Kellerkneipe, in der Paula arbeitet und ihm erklärt: »Ich musste etwas anfangen.« Ein Betrunkener ist da, und Paula sagt: »Ich werde heiraten.« Und sie sagt auch: »Du hättest nicht kommen sollen, Harry.« Der trinkt Schnaps und beruhigt sie: »Ich gehe gleich wieder.« Später flüstert sie: »Ich werde bald abgelöst. … Wollen wir dann irgendwohin gehen?« — »Sicher. Wohin du willst.« — »Ich freue mich, Harry.« — »Ja.«

Der Wirt liest vor, dass ein Schiff gerammt wurde und gesunken ist. Harry sieht das Bild seines Schiffes, das ohne ihn ablegte. Die ganze Besatzung tot, elf Mann, die Namen sind in der Zeitung aufgeführt, darunter: Harry H., 32 Jahre, verheiratet. Dann geht Harry gleich weg, verspricht aber, zurückzukommen. Paula: »Ich muss dich sprechen, Harry.« — »Ich weiß, es dauert nicht lange.«

Harry Hoppe geht mit seinem Gepäck zum Strom. Er ergreift den Karton und gibt ihm einen Tritt, und danach schleudert er den Koffer fort.

Hoppe wartete, bis Koffer und Karton hinter dem weißen Gitter des Schneetreibens verschwunden waren, dann schnippte er die Kippe der Zigarette fort und ging langsam durch das Schneetreiben zur Stadt hinauf.

Das Gepäck steht für sein altes Leben. Er fängt ein neues an. Mit Paula vermutlich. Mehr brauchen wir nicht zu wissen.

DSCN3719Einer verpasst sein Schiff und wird gerettet. Am Tag zuvor hatte mir eine Klosterschwester aus ihrer Zeit in der Entbindungsstation erzählt: Zwei hochschwangere Frauen gingen zur Flugschau in Ramstein, 1988 war das. Bei einer der beiden setzten die Wehen ein, sie musste zurück und bekam ihr Kind. Die andere starb bei dem Unglück, als Flugzeuge abstürzten, und auch ihr ungeborenes Kind starb. Warum sie? Wir wissen nicht, was in den Büchern steht, die unser Ende kennen. Irgendwo ist das verzeichnet. Wir können alles selbst gestalten, bis auf unser Lebensende.

Denken wir nun an Zürich-Transit von Max Frisch, das manipogo am 1. August hatte. Auch da gilt einer für tot und nutzt die Chance, um neu anzufangen. In einigen Büchern und Filmen gibt es dieses Motiv, dass einer für tot erklärt wird und woanders ein neues Leben beginnt. Darum dachte ich: Das könnte eine schöne Serie werden, wenn es mir gelingt, genügend Material zu sammeln. Der Anfang von etwas.

Literatur malt das konkret aus, doch es ist auch metaphorisch zu lesen. Wer neu anfangen will, muss alles hinter sich lassen, und das geht am besten, wenn die Person verschwindet. Das Ego abzustreifen, ist kein Verlust; man wird freier dadurch. »Gib alles, was du hast, den Armen und folge mir nach!« rät Jesus einem reichen Jüngling, der dies aber nicht konnte. »Wenn du die Absicht hast, dich zu erneuern, tu es jeden Tag«, sagte Konfuzius.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.