Staub

Isaac Bashevis Singer (1902-1991) habe ich erwähnt, er schrieb über die Ostjuden im Vorkriegspolen und die Juden im Nachkriegs-Amerika. In einem Beitrag habe ich das Erotische und Burleske hervorgehoben, doch man kann alles auch anders sehen. Der Kabbalist vom East Broadway zeigt das Leben, wie es ist: Man macht herum und verwirklicht sich, und einmal findet es sein Ende. Im Mittelalter hat man das nie vergessen.

service-pnp-gsc-5a07000-5a07900-5a07950rSinger, der 1978 den Literatur-Nobelpreis erhielt, führt einen Reigen von Personen auf, und ganz unspektakulär sterben die dann. In der Geschichte Nachbarn kommen sich zwei näher, die sich zunächst nicht ausstehen konnten: der aufschneiderische Schriftsteller Morris Terkeltoyb und die chaotische Margit Levy. Er wohnte in dem Haus am Central Park West zwei Stockwerke unterhalb von Singer (besser: dem Erzähler), die andere in der Etage unterhalb. Beide waren in ihren Jahren bereits vorgerückt, aber dass sie zusammen waren, verblüffte den Erzähler, als er nach einer längeren Reise wieder zurückkkam.

Terkeltoyb stirbt und hinterlässt hunderte Briefe und Werke, um die sich Margit kümmert. Vielleicht ist sie schon 90, als sie an einem Tag im Januar stirbt.

Es war ein kalter Tag und der Wind blies. Zwei Leute kamen zu der kurzen Feier in der Kapelle. Der Rabbi sprach schnell das Totengebet »Barmherziger Gott« und ein paar Abschiedsworte. Ich hörte ihn sagen: »Nur in einem Dorf hat man das Privileg, einen guten Namen zu hinterlassen. In einer Stadt wie New York stirbt der Name eines Menschen oft schon vor ihm.« Dann wurde der Sarg in den Leichenwagen geschoben, der zum Friedhof fuhr, und Margit Levy begab sich in die Ewigkeit ohne irgendwelche Begleitung.

Ein Jahr später soll für sie ein Gedenkstein eingeweiht werden. Der Erzähler hatte geplant, hinzugehen. Die folgende Passage ist lakonisch geschrieben und trifft einen dennoch ins Mark.

service-pnp-stereo-1s00000-1s08000-1s08100-1s08161rAber an diesem Sonntag setzte ein starker Schneefall ein, und ich war sicher, dass man die Enthüllung verschieben würde. Außerdem erwachte ich mit einem schweren Ischiasanfall. Ich nahm ein heißes Bad, aber für wen sollte ich mich rasieren und anziehen? Mich vermisste ja auch niemand. Nach dem Frühstück nahm ich Margits Album heraus, einige von Morris‘ Briefen, sah die Photos an und las. Ich duselte ein, träumte und hatte den Traum vergessen, als ich aufwachte. Von Zeit zu Zeit sah ich aus dem Fenster. Der Schnee fiel dünn und friedlich, als ob er sein eigenes Fallen betrachte. Der kurze Tag ging zu Ende. Der verlassene Park wurde ein Friedhof. Die Gebäude am Central Park South ragten auf wie Grabsteine. Am Riverside Drive ging die Sonne unter, und das Wasser des Reservoirs spiegelte einen brennenden Docht wider. Der Heizkörper, neben dem ich saß, zischte und brummte: »Staub, Staub, Staub.« Der Singsang drang in meine Knochen, zusammen mit der Wärme. Er wiederholte eine Wahrheit, so alt wie die Welt, so tief wie der Schlaf. 

So alt wie die Welt. Psalm 103, 14-17:

… Denn er weiß, was wir für Gebilde sind; er denkt daran: Wir sind nur Staub. Des Menschen Tage sind wie Gras, er blüht wie die Blume des Feldes. Fährt der Wind darüber, ist sie dahin; / der Ort, wo sie stand, weiß von ihr nichts mehr. Doch die Huld des Herrn währt immer und ewig / für alle, die ihn fürchten und ehren.

 

Illustrationen: oben Central Park West, 1941 fotografiert von Gottscho-Schleisner; unten Central Park South, Aufnahmedatum und Autor unbekannt. Dank an Library of Congress, Washington D. C.

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