Wenn sie morgen kommen

Sie, die vielleicht morgen kommen, das sind die Deutschen, die Anfang Mai 1940 am Rhein stehen oder eher an ihm entlangfahren Richtung Westen, um Frankreich plattzumachen. Wollen sich die Nationalsozialisten auch die Schweiz einverleiben? Darum geht’s in dem Roman Wenn sie morgen kommen von Arthur Honegger, 1977 erschienen. Ich komme noch drauf und will jetzt schon erwähnen, dass heute vor 30 Jahren die Bürgerinnen des Halbkantons Appenzell-Innerrhoden das Stimmrecht erhielten, als letzte Schweizerinnen; spät, aber doch. Ein Meilenstein! 

DSCN3850Vor zwei Wochen diente der Roman als Aufhänger für eine Geschichte über die Militärradfahrer. Erst hinterher fand ich zufällig in einem Ordner ein schönes Bild dazu, in dem die Radler uns nicht den Rücken zukehren, sondern kraftvoll angreifen. Wir sehen es rechts.

Honegger, der Autor, hatte eine schwere Kindheit als Waise und wurde im Zürcher Oberland von Familie zu Familie geschickt, wo er schwer arbeiten musste. Übrigens nennt man die Gegend um Zürich und ein Stück am See entlang das Unterland, und dort, wo in der Nähe des Sees bald ein paar 1000 Meter hohe Berge hochragen, beginnt das Oberland — Richtung Osten. Die Handlung spielt im (erfundenen) Ort Gyrwil oberhalb von Rüti ZH, gelegen am Berg Bachtel.

In Rüti kam 1895 Albin Zollinger zur Welt, der in Oerlikon Schullehrer war. Sein Buch Pfannenstiel hört da auf, wo Honegger anfängt: bei Kriegsanbruch, mit der Einberufung seines Protagonisten, des Künstlers. Der sensible Poet Zollinger (schon am 7. November 1941 verstorben) soll jedoch, wie ich einmal las, seinen Kindern gegenüber etwas Strenges gehabt haben. Bei Honegger kommt auch ein Zollinger vor, ein alter aufrechter Mann, dem man vertrauen kann; Zollinger wäre bei Niederschrift des Buches auch alt gewesen, 81, und das Finale von Wenn sie morgen kommen liest sich wie eine Reverenz an den früh verstorbenen Autor.

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Über den Glarner Bergen stand die Fahne eines Föhnsturms. Die Sonne schien durch einen Dunstschleier. Es war warm und für die Jahreszeit zu hell.
Zollinger und Ehrensperger waren das Moos hinaufgestiegen und hatten durch den Jungwald den Bachtel erreicht. Sie redeten nicht und schauten ins Land hinaus. Wie ein Silberstreifen lag der Zürichsee hinter der Hügelkette des Pfannenstiels. Das Oberland lag vor ihnen ausgebreitet. Weit unten stieg der Rauch aus einer Maschinenfabrik. Man konnte den Zug aus Zürich in den Bahnhof von Gyrwil einfahren sehen. Man hörte das Kreischen der Bremsen. 
»Man kann sich nie daran sattsehen«, sagte Zollinger. Von Hinwil läutete es elf Uhr, dann fiel die Glocke von Bubikon ein, dann von Dürnten und weit weg die Glocke von Grüningen.
Die beiden Männer schwiegen.
Sie gingen den Weg über das Moos hinunter. Im »Hölzernen Bachtel« kehrten sie ein.
Der Föhn war plötzlich kalt geworden.

DSCN3612Auf den 315 Seiten davor wird auch oft eingekehrt und ordentlich getrunken — meist Wein und Schnaps. Es ist ein Männerroman. In der Schweiz war ja erst am 16. März 1971 das Frauenstimmrecht in Kraft getreten, erwirkt durch ein Votum der Männer in einer Volksabstimmung. Einige Kantone ließen das erst 1972 zu, und Appenzell-Ausserrhoden ließ sich bis 1989 Zeit, Appenzell-Innerrhoden sogar bis zum 27. November 1990, es ist kaum zu glauben. Mein Artikel feiert also heute 30 Jahre Frauenstimmrecht in Innerrhoden, was hauptsächlich die katholische Stadt Appenzell ist. Einwohnerzahl: etwas mehr als 16.000. Ein Auszug aus dem Roman Wenn sie morgen kommen:

»Was war denn?« fragte Elsa.
Stutz richtete sich auf und sagte: »Männersache.«
»Glaubst du nicht, dass auch wir Frauen in der Lage wären, ein bisschen zu helfen?«
»Nein, diesmal nicht« wehrte er sie ab.
Zollinger blickte Elsa an. »Da bin ich nicht so sicher, dass dein Vater recht hat. Ich glaube, es wäre ganz gut …«
»Lass die Weiber aus dem Spiel«, unterbrach ihn Stutz barsch.

Es geht um die Mobilisierung. Die Männer bringen sich in der Armee in Stellung. Da wird immer gereizt reagiert, jeder will Punkte machen und sich behaupten. Es gibt aufrechte Schweizer und ein paar potenzielle Kollaborateure, die zu den Siegern gehören wollen. Doch da sind auch integre Personen: Hauptmann Schnori, der Oberst Turtschi, Major Grüninger, Zollinger und Ehrensperger. Die Frauen im Hintergrund sind Vreni, Elsa und Ursula, und obwohl unbeachtet, sind sie entscheidend. Diese drei Frauen sind mittelbar am Drama des Endes beteiligt, als es drei Tote gibt, wodurch das Buch sich aufschwingt, bevor Zollinger und Ehrensperger die schöne Schweizer Landschaft betrachten.

 

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