Flüchtende

Wenden wir uns an diesem Vortag und Vorabend der Geburt des Herrn, wie die Christen sagen, den Urtexten zu. Man lässt Weihnachten ja immer an sich vorbeilaufen, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen. Denken wir also mal darüber nach (wobei der Theologe, der jahrelang diese Texte studiert, Einwände erheben mag) und interpretieren wir rasch die Texte.

DSCN4086 Von den vier Evangelisten steigen Markus und Johannes erst ein, als Jesus schon auf der Welt und älter ist. Die Geburt schildern nur Matthäus und Lukas. Markus schrieb seinen Text angeblich zwischen den Jahren 63 und 69, Johannes erst zwischen den Jahren 80 und 90; bei Matthäus wird von 40 bis 60 angegeben, bei Markus 59 bis 64. Das Matthäus-Evangelium wurde am meisten beachtet, es war das erste und wichtigste.

DSCN4085Lukas fängt mit Verheißungen und der Geburt Johannes des Täufers an. Dann erwähnt er die Volkszählung von Kaiser Augustus, die Josef dazu zwingt, mit Maria aus Nazareth nach Betlehem in Judäa zu wandern. (Bei den drei anderen Evangelisten: kein Wort darüber.) Dort kommt sie nieder. Nach zwei Wochen kehren sie wieder nach Nazareth zurück. Probleme? Fehlanzeige.

Bei Matthäus kommt die Zählung gar nicht vor. Er macht sich eher Gedanken um die Beziehung zwischen Maria und Josef: Sie hatten noch nicht Sex miteinander, und plötzlich ist sie schwanger. Josef war ein gutmütiger Mann und stellte sie nicht zur Rede. Was war da los? hätte er sie fragen können, mit vollem Recht. Dann geh doch mit dem, von dem das Kind ist! Aber ein Engel sagt ihm im Traum, es sei vom Heiligen Geist, und Josef glaubt es und spielt mit. Das Kind wird in Bethlehem geboren. Von woher Josef und Maria kommen, ob sie ohnehin aus Bethlehem sind, erfahren wir nicht.

2020-12-02-0001Die Sache mit den Sterndeutern — später die Heiligen Drei Könige genannt — gibt es auch nur bei Matthäus. Die Weisen melden sich bei Herodes: Wo der König der Juden geboren würde? Herodes ist alarmiert; er fürchtet um seinen Job. Seine Hohepriester sagen ihm, das Kind werde in Bethlehem zur Welt kommen, und Herodes beauftragt die Sterndeuter, hinzugehen und ihm hinterher persönlich Bericht zu erstatten. Doch diesen erscheint im Traum ein Engel, der ihnen befiehlt, auf geradem Weg heimzukehren und Herodes nichts zu sagen. Der merkt nach ein paar Tagen Funkstille, dass die drei ihn um-und hintergangen haben und gibt Befehl, alle Kinder bis zum Alter von zwei Jahren umzubringen.

Ein Engel warnt Josef: Er müsse jetzt schnell weg, sonst würde das Kind umgebracht. Also flüchtet die Familie nach Ägypten, was vermutlich nicht weit weg lag. Erst als Herodes tot war, kam sie zurück — aber nicht nach Judäa, denn da regierte Herodes‘ Sohn Archelaus. Die drei landen in Galiläa und lassen sich prompt in Nazareth nieder — von wo sie laut Lukas ja gekommen waren, was Matthäus jedoch keine Silbe wert ist. Ihm ist die Überlieferung wichtig: Etwas geschieht, damit die Schrift sich erfülle; »er wird Nazoräer genannt werden.«

gypten4-1Überhaupt vermissen wir bei Matthäus‘ Kollegen die Tatsache, dass der kleine Jesus ein paar Jahre angeblich in Ägypten verbrachte. Ist ja keine Kleinigkeit. Was hätte sich daraus machen lassen! Joseph wurde doch Vize des Pharaoh! Das hat Matthäus verschlafen. Wie gesagt scheinen bei Lukas die ersten beiden Lebenswochen Jesu ruhig verlaufen zu sein. Siemeon und Hanna äußern sich begeistert, und dann geht es zurück.

Und nur der Evangelist Matthäus bietet die Geschichte vom Kindermord in Bethlehem auf. Da müssen also Soldaten des Königs in Bethlehem und Umgebung kleine Kinder ermorden, was für eine schreckliche Vorstellung! Befehl von oben. Unter den im Verlauf der Judenvernichtung Getöteten waren aber einige hundertausend Kinder, hat Raul Hilberg geschrieben.

Und warum verließ sich Herodes auf die Sterndeuter, die er kaum kannte? Um eine Geheimmission konnte es nicht gehen, denn der König hatte ja schon alle seine Experten gefragt, wo der neue König zur Welt kommen werde; alle wussten, dass er in Panik war. Wenn er so viel Angst hatte, warum schickte er nicht gleich ein Mordkommando nach Bethlehem aus? Bei Matthäus ist das alles so, damit Jeremia Recht behielt, der in 31,15 schrieb: »Rahel weint um ihre Kinder / und will sich nicht trösten lassen / um ihre Kinder, denn sie sind dahin.«

Dass es sich um eine Prophezeiung handelt, wird bei Jeremia nicht recht deutlich. Aber die Juden, allen voran die Kabbalisten, haben immer die alten Texte auf abenteuerlichste Weise gedeutet, und mag sein, dass Matthäus, um seine Belesenheit und zudem den göttlichen Plan zu zeigen, etwas dazuerfunden hat, vielleicht viel dazuerfunden hat.

service-pnp-anrc-02400-02440rEs sei nur noch gesagt, dass eine Flucht heutzutage nichts Seltenes ist. An die 70 Millionen Menschen sollen weltweit auf der Flucht sein vor Krieg und Hungersnot, und das wäre einer von 100 Erdenbewohnern, und 40 Prozent sind nach der Statistik jünger als 18 Jahre. Die Heimat verloren schon als Kind, irgendwo herumhängen in einem Zeltlager, in dem es heiß ist und das Wasser fehlt, das kennen viele in Afrika und Asien, und insofern hat Matthäus selber, der die Tradition beschwor, auch in die Zukunft geblickt. (Foto: Flüchtlingscamp in Palästina, 1918, Aufnahme des Roten Kreuzes, Dank an Library of Congress, Wash. D.C.)

Trotz allem: Frohe Weihnachten allerseits!

Unser Weihnachtsmann wie schon oft:
Jan Paulsen im knackig kalten Norwegen. God jul!

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