Bär und Seele

Die acht Seiten Über das Marionettentheater von Heinrich von Kleist (1777-1811) sind mustergültiges klassisches Schreiben und zeigen, wie weit man gedanklich vor über 200 Jahren gekommen war, und vieles hätte damals schon erfunden werden können, hätten nicht geistige Blockaden gewirkt. Vom Marionettentheater zum Bären und zur Seele, und alles verweist so nebenbei auf die gestrige Amanda.

071Gunhild Kübler schrieb 2013:

Wir leben heute in schnellen, kühlen Zeiten. Nicht nur ist uns jede Art von Pathos verdächtig geworden. Unsere Sprachen sind dabei, sich langsam zu entleeren. … Ein Wort wie »Seele«ist außerhalb des Bereichs der organisierten Religiosität kaum mehr benutzbar. Mit einer derart entleerten Sprache über den Tagesbereich hinauszukommen, wird immer schwieriger. (…) Dazu den Schluss von Largo desolato lesen!)

48 Mpr1563 floating women1801 trifft Kleist den Herrn C., den ersten Tänzer der Stadt M. Er spricht von den Marionetten. Jede Bewegung habe einen Schwerpunkt, und die Glieder der Marionette folgen ihm. Die gerade Linie des Schwerpunkts sei gewissermaßen der Weg der Seele des Tänzers, und der Marionettenspieler müsse tanzen, müsse sich in diesen Schwerpunkt hineindenken. Herr C. plädiert sogar für eine mechanische Puppe, die noch anmutiger sich bewegen könne als der menschliche Körper. Vorteil obendrein: Sie ziert sich nicht. Ein Plädoyer für den Roboter, im Jahr 1801.

Dann kommt die berühmte Geschichte von dem anmutigen Jungen, der sich im Spiegel beobachtet und seine Anmut verliert, weil er ihrer bewusst wird. Er verlor seine Unschuld und das Paradies, seine Bewegungen wurden ungeschickt. Wir dürfen nicht zu viel wissen und auch nicht zu viel denken.

Dann der Bär des livländischen Landedelmanns v. G. Herr C. soll gegen den Bären kämpfen, der in Fechterposition dasteht. C. macht Ausfälle, Tricks, direkte Angriffe — doch das bringt alles nichts. Der Bär langweilt sich bloß.

service-pnp-cph-3c30000-3c39000-3c39300-3c39363rNicht bloß, dass der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten (…) ging er gar nicht einmal ein: Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, rührte er sich nicht.

Das führt aufs Ende hin. Herr C. erklärt, dass, »wenn die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt«. Je weniger Bewusstsein, desto mehr Eleganz. Doch dann … hat nicht Giordano Bruno geschrieben, die Extreme berührten sich? Wenn man über alles unendlich lang nachgedacht hat, meint Herr C., findet sich die Grazie wieder ein; harmonisch ist ein Gliedermann ohne jegliches Bewusstsein — oder eben ein Gott mit unendlichem Bewusstsein. (Foto oben: Tanzbär bei Istanbul, zwischen 1915 und 1923, Dank an Library of Congress, Wash. D. C.)

Der schöne Schluss:

Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?
Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.

Der Buddhist sagt: Lern alles, aber dann vergiss es wieder. Das mag gemeint sein. Und was hat das alles mit Amanda zu tun? Amanda ist eine Schöpfung Jurek Beckers. Was sie sagt, hat Hand und Fuß, ist genial geistreich. Sie handelt von ihrem Schwerpunkt aus, der Seele, und alles ist richtig. Sie steht da wie der Bär, und was nicht ernst gemeint ist, wird von ihr ignoriert (die Affären ihrer Männer zum Beispiel). Irgendwie ist Amanda herzlos ein Lehrstück: Die seelenlose Welt rotiert um eine Seele, nähert sich ihr an, erreicht sie aber nie.

Krishnamurti: Wenn das Bewusstsein richtig ist, brauchen wir weder Reformen noch Gesetze; die sind Oberfläche. Und auch Ludwig, Fritz und Stanislaus sind Oberfläche, interpretieren die Welt, lassen sich von ihr ins Hamsterrad der dahinschnurrenden Sätze treiben, besitzen aber keinen Schwerpunkt. Sie sind Opportunisten und Taktierer, die Finten verwenden. Sie laufen am Gängelband der Macht dahin und halten sich für gut. Ein Satz von Amanda genügt, sie als armselige Würstchen dastehen zu lassen.

Amanda hat Grundsätze und Haltung. Die lässt sie sich nicht abkaufen. Mehr solcher standhafter Menschen, und weder Nationalsozialismus noch DDR-Sozialismus hätten sich halten können.

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