Anekdoten von Wissenschaftlern (3): Die Inspiration

Der Traum, der Herrn Kekulé zu einer wichtigen Entdeckung führte, ist bekannter geworden als das, was er entdeckte; das mag an seinem fremdartigen Namen liegen. Heute bringt manipogo aus dem Gratzer-Buch eine Auswahl inspirierender Momente und Träume, die Folgen hatten. Wer immerzu über ein Problem nachdenkt, dem schenkt’s der Herr bisweilen im Schlaf.

330px-Heinrich_von_Angeli_-_Friedrich_August_Kekulé_von_StradonitzAugust Kekulé wurde 1829 in Darmstadt geboren. Ein Jahr vor seinem Tod 1896 in Bonn wurden seine adeligen böhmischen Vorfahren anerkannt, und er durfte sich August Kekulé von Stradonitz nennen. Zwei Träume kamen zu ihm, die »die Chemie von Grund auf veränderten«, meint Walter Gratzer. Der erste war eine Träumerei und geschah in London. Wie können zwei Moleküle mit derselben Zusammensetzung (5 Karbon- und 12 Wasserstoff-Atome) unterschiedlich sein? Das besprach er mit dem Kollegen Hugo Müller und fuhr auf dem Oberdeck einer Kutsche heim nach Clapham. In seinen eigenen Worten:

Ich fiel in eine Träumerei, und da tanzten die Atome vor meinen Augen. Woher auch diese kleinen Wesen zu mir kamen, so waren sie doch immer in Bewegung. Jetzt sah ich jedoch, wie immer häufiger zwei kleinere Atome sich zu einem Paar zusammenschlossen; wie ein größeres die beiden kleineren umarmte; wie noch größere sich drei oder vier der kleineren schnappten; während das Ganze wie in einem verrückten Tanz herumschwirrte. Ich sah, wie die größeren eine Kette bildeten und die kleineren mit sich zogen …

Die ganze Nacht arbeitete er das aus. Später dann — in Gent, wo er Professor war — eine neue Träumerei:

Ich saß und schrieb in mein Textbuch, aber es ging nicht voran; meine Gedanken waren woanders. Ich drehte meinen Stuhl zum Feuer und döste. Wieder tanzten die Atome vor meinen Augen. Dieses Mal hielten sich die kleineren Gruppen bescheiden im Hintergrund. Mein geistiges Auge, schärfer geworden durch mehrere derartiger Visionen, konnte nun größere Strukturen von vielfältiger Zusammenstellung unterscheiden: Lange Reihen gingen manchmal enger zusammen und wanden und drehten sich in schlangengleicher Bewegung. Aber schau! Was war das? Eine der Schlangen hatte seinen eigenen Schwanz ergriffen, und die Form wirbelte fast spöttisch vor meinem Auge. Wie durch einen Blitzschlag erwachte ich; und auch dieses Mal verbrachte ich den Rest der Nacht damit, die Hypothese auszuarbeiten.

So kam Kekulé auf den Benzolring.

Freeman Dyson (1923-2020; er starb am 29. Februar vor einem Jahr) war einer der größten Mathematiker und bezeichnete sich selbst als »Problemlöser«. Das Problem der Quantenelektrodynamik löste sich ihm von selbst, in einem Bus; doch Vorbedingung war, dass Dyson sich eingehend (tagelang) mit zwei Physikern unterhielt, die nahe dran waren, Richard Feynman und Julian Schwinger. Das war in Ann Arbor in Kalifornien.

Basile5Ich stieg in einen Greyhound-Bus und fuhr nonstop in drei Tagen und Nächten nach Chicago. Dieses Mal hatte ich niemanden, mit dem ich reden konnte. Die Straßen waren zu holprig, um lesen zu können, und so saß ich da und schaute aus dem Fenster und sank in eine angenehme Starre. Als wir am dritten Tag durch Nebraska rollten, passierte plötzlich etwas. Zwei Wochen hatte ich nicht über Physik nachgedacht, und nun drang etwas in mein Bewusstsein und explodierte. Feynmans Bilder und Schwingers Gleichungen bildeten sich in meinem Gehirn so klar ab wie nie zuvor. Zum ersten Mal konnte ich sie kombinieren. Eine Stunde oder zwei Stunden arrangierte ich die Bruchstücke an und gruppierte sie wieder um. dann wusste ich, wie alles zusammengehörte. Ich hatte weder Stift noch Papier, aber alles war so klar, dass ich es nicht niederschreiben musste.

Der österreichische Chemiker Otto Loewi (1873-1961) war Professor in Graz. Eines Nachts schlief er über einem Roman ein und wachte erschrocken auf mit dem Wissen, dass ihm eine verblüffende Erkenntnis zuteil geworden war. Er skizzierte seinen Einfall. Jedoch konnte er am nächsten Morgen nichts daraus entnehmen, was verwertbar gewesen wäre. Betrübt ging er in der folgenden Nacht zu Bett, doch am frühen Morgen erwachte er erneut beglückt und schrieb alles genauer auf. Durch die Arbeit mit zwei Froschherzen in seinem Labor kam er auf das, was später Neurotransmitter genannt werden sollte. Es brachte ihm 1936 den Nobelpreis ein (gemeinsam mit seinem Freund Henry Dale).

 

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