Die Stimme, von fernher

Man muss nicht Dichter sein, um sich an die Stimmen zu erinnern. Diejenigen der Menschen, die uns teuer sind, begleiten uns. Manchmal wiegt eine Stimme schwerer als ein Gesicht. Jemand fehlt; es fehlt auch seine/ihre Stimme, sein/ihr Wort, das neben allem Handeln herlief, beiläufig, und dann doch jenen Menschen ausmachte, der seine Stimme war, an uns gerichtet. Wir waren gemeint, wir wurden gerufen, und das war schön.

Die vier großen italienischen Nachkriegsdichter (Montale, Ungaretti. Luzi, Quasimodo) verloren ihre Frauen und litten darunter. Häufig war an sie ihre Dichtung gerichtet. Alle vier trauerten und widmeten ihren Frauen persönliche, kleine Gedichte. Mario Luzi (1914-2005):

Wo bist du? ich finde dich nicht, meine Seele,
wer hat dich fortgenommen? — Die Welt? Das Paradies?
Oder verbirgst du dich in deiner Tiefe?
sprich zu mir —
ich spüre, dass murmeln,
manchmal, unruhig,
die Elemente
und mit ihnen die vielen Träger
des Seins: Menschen,
Engel, die Sonne,
die Luft, die Winde.

Eugenio Montale (1896-1981):

Dein Wort, so kümmerlich und unbedacht,
bleibt doch das einzige, an dem ich mich freue.
Doch verändert ist die Betonung, anders die Farbe.
Ich gewöhne mich daran, dich im Ticken
des Fernschreibers zu spüren und zu entziffern
und im sich windenden Rauch meiner Brissago-Zigarre. 

Giuseppe Ungaretti (1888-1970):

(…)
Deine Gedanken, die ich wiederfinde
unter den vertrauten Objekten,
bezaubern,
aber, schmeichelnd, ist es dein Wort,
das wieder aufleben lässt
und gründlicher
den kürzlich verwundenen Schmerz
dessen, der dich liebte und unerhörterweise
durchs bloße Lieben in der Erinnerung
nun bestraft wird.

Salvatore Quasimodo (1901-1968):

Seit einigen Nächten schon hört man wieder das Meer,
leicht, auf und ab, entlang des glatten Strandes:
Echo einer Stimme eingeschlossen im Gedächtnis,
die zurückweist in die Zeit; und dann dieses
andauernde Klagen der Möwen: vielleicht
auch von Turmschwalben, die der April
auf die Ebene zutreibt. Einmal
warst du mir nahe mit jener Stimme;
und ich möchte, dass auch zu dir, jetzt,
von mir ein Echo aus der Erinnerung kommt
wie jenes dumpfe Gemurmel des Meeres.

♣ ♥ ♠

Ich denke heute, da ich dies schreibe, an eine Frau aus dem Altenpflegeheim, die vor 4 Wochen, am 8. Januar, gestorben ist. Ihre dunkle Stimme gefiel mir, aber ich wollte nicht, dass sie sich, wie geschehen, in mich verliebt. Das war an Fasnacht vor zwei Jahren. Die »Kinder« (schon fast in meinem Alter) waren entsetzt und verwirrt, da ihre Mutter so sehr an ihrem verstorbenen Mann gehangen hatte. Sie lief mir also nach und stellte mich zur Rede: Ob ich sie vermeiden wolle? Ich erklärte ihr, dass ich mir wegen meiner Arbeit keine Beziehung erlauben dürfe, und irgendwann vergaß sie es wieder, aber nie ganz. Manchmal vertraute sie mir an, sie wolle nicht, dass geredet würde; man dürfe uns nicht zusammen sehen. Später wurde sie zunehmend unruhig, wollte dauernd weglaufen und stürzte oft, lag lang im Bett und tat dann bald ihren letzten Atemzug. Darum widme ich diesen Artikel Dir, Hilde. Mach’s gut.

 

 

 

 

 

 

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