Cliffhanger

Die »Erzählungen aus den Tausendundein Nächten« lagen – zwölfbändig im Schuber – unten in der Telefonzelle, die als Bücherreservoir im Städtchen steht. Ich hab sie mir geschnappt und gleich angefangen zu lesen, bis zum ersten »Cliffhanger«, von dem noch viele folgen, und jeder einzelne rettet Schehrezâd das Leben. Um ihn geht’s, nicht um sie.

Wir kennen die Vorgeschichte: Der mächtige persische König Schehrijâr wurde von seiner Frau betrogen, tötete sie und ließ drei Jahre lang jede Nacht eine Jungfrau zu sich kommen, die er jeweils nach vollzogenem Akt tötete, denn er wollte der Einzige sein. Tausend tote junge Frauen. Schließlich meldet sich Schehrezâd und beginnt ihre Erzählung.

Ein Scheich war lange mit seiner Cousine verheiratet, die ihm keine Kinder schenkte. Da erwählte er eine Sklavin zur Nebenfrau und bekam von ihr einen Sohn. Als er auf Reisen war, verwandelte seine erste Frau, die Magie konnte, seine Nebenfrau in eine junge Kuh und seinen Sohn in ein Kalb. Für ein Fest, so forderte die Cousine ihren heimgekehrten Mann auf, möge er eine Kuh schlachten. Er tut es, schlachtet also die verzauberte Sklavin, aber sie hat nicht viel Fleisch. »Schlachte also das Kalb!«

Schehrezâd lässt so den Scheich zu Ende reden:

Da sprach sie zu mir: »Bei Allah, dem Allmächtigen, dem Erbarmenden, Erbarmungsreichen: du musst es an diesem heiligen Tage töten, und wenn du es nicht tötest, so bist du mein Mann nicht mehr und ich nicht mehr deine Frau!« Als ich nun diese harten Worte von ihr hörte und doch ihr Ziel nicht kannte, da trat ich zu dem Kalb, das Messer in der Hand. – –

Das ist er, der Cliffhanger! So geht es weiter:

Da bemerkte Schehrezâd, dass der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Ihre Schwester aber sprach: »Wie schön ist deine Erzählung, und wie entzückend, und wie lieblich und wie berückend!« Und Schehrezâd erwiderte ihr: »Was ist all dies gegen das, was ich euch in der nächsten Nacht erzählen könnte, wenn der König mein Leben zu schonen geruhte!« Da sprach der König zu sich selber: »Bei Allah, ich will sie nicht töten lassen, bis ich den Schluss ihrer Geschichte höre!« Darauf verbrachten sie den Rest jener Nacht in gegenseitiger Umarmung, bis der Tag vollends anbrach.

Das ist die Macht der Geschichten und die Kraft der Neugier. Der Cliffhanger heißt vermutlich so, weil jemand über eine Klippe hängt, als die Geschichte abbricht; und wir müssen wissen, ob es ihm gelang, sich hochzuziehen oder ob er abstürzte. Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten waren im 10. Jahrhundert in Bagdad und im 12. Jahrhundert in Kairo unter dem Titel »Tausend Abenteuer« bereits bekannt.

Es ist vielleicht der schönste Cliffhanger überhaupt. Doch es ist nicht anzunehmen, dass in den Jahrtausenden zuvor die Geschichtenerzähler der Welt diesen Kunstgriff nicht kannten. Es ist vielleicht der älteste überhaupt: Morgen erzählen wir weiter! Schlaft gut und bleibt mir gewogen! Betroffenheit und Enttäuschung bei den Zuhörern, die schon angesteckt sind. Wie mag es weitergehen? Morgen verraten wir es, denn manipogo weiß es auch noch nicht. Weiterlesen, immer weiter, bis zur allerletzten Nacht.

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