… nun fahren Sie auch noch Veloziped!

Noch 1870 muss es unerhört und revolutionär gewesen sein, ein Veloziped zu fahren, vor allem in der russischen Provinz. Anton Tschechow erzählt davon in der Geschichte Der Mensch im Futteral, und da er sich oft an seine Schulzeit erinnerte, wird wohl das hölzernes Zweirad à la Drais gemeint gewesen sein, das man mit den Füßen antrieb: ein Laufrad. Der Lehrer Belikow nahm Anstoß …

Belikow, ein gefürchteter und gestrenger Lehrer und Moralapostel, hatte sich augenscheinlich in die lustige Ukrainerin Warinjka verguckt. Sein Kollege, der Gymnasiallehrer Burkin (er erzählt alles seinem Freund Iwan Iwanytsch) geht an einem Mai im Sonntag mit Belikow aus, der verärgert und verdüstert ist wie oft.

IMG_20170527_120121879Er tat mir geradezu leid. Wie wir so nebeneinander hergehen, fährt plötzlich — können Sie sich das vorstellen! —, also da fährt Kowalenko auf seinem Veloziped an uns vorüber, hinter ihm Warinjka, auch zu Rad, rot, erhitzt, aber strahlend und vergnügt. 
›Wir fahren voraus!‹ ruft sie. ›Es ist so herrliches Wetter, einfach toll!‹
Und beide verschwanden. Mein Belikow wechselte die Gesichtsfarbe und wurde schneeweiß, er war wie erstarrt. Er blieb stehen und sah mich an … ›Erlauben Sie, was bedeutet das?‹ fragte er. ›Aber vielleicht täuscht mich mein Gesichtssinn? Schickt es sich denn für einen Gymnasiallehrer und für eine Dame, Veloziped zu fahren?‹
›Was ist denn Unschickliches dabei?‹ sagte ich. ›Lassen Sie sie doch spazierenfahren, soviel sie wollen.‹

Am andern Tag schleppte sich Belikow zu Kowalenko, Warinjkas Bruder. Er beklagte sich über dies und das und kommt zum Hauptpunkt:

›Und dann muss ich Ihnen noch etwas anderes sagen. Ich bin ein alter Lehrer. Sie aber stehen erst am Beginn Ihrer DSCN2652Laufbahn, und ich halte es für meine Pflicht als älterer Kollege, Sie zu warnen. Sie fahren Rad, aber dieses Vergnügen ist für einen Erzieher der Jugend äußerst unschicklich.‹ … Als ich dann noch Ihr Fräulein Schwester sah, wurde mir schwarz vor Augen. Eine Frau oder ein junges Mädchen auf dem Veloziped — das ist entsetzlich! … Sie laufen im gestickten Hemd herum, gehen auf der Straße beständig mit irgendwelchen Büchern unterm Arm, und nun fahren Sie auch noch Veloziped! Dass Sie und Ihre Schwester radfahren, wird der Direktor erfahren, dann kommt es vor den Schulrat … Was kann da Gutes herauskommen?‹
›Dass ich und meine Schwester radfahren, geht keinen Menschen was an!‹ sagte Kowalenko und wurde dunkelrot. ›Und wer sich in meine häuslichen und familiären Angelegenheiten mischt, den soll der Teufel holen!‹
Belikow erbleichte und erhob sich.

Dieser Wortwechsel sollte Folgen haben. Belikow beharrte, er werde alles berichten, Kowalenko packte ihn am Kragen und stieß ihn die Treppe hinunter, und seine Schwester sah en unglücklich Gestürzten und lachte lauthals. Der gedemütigte Belikow schlich heim, legte sich ins Bett und stand nicht mehr auf. Einen Monat später starb er. Zwar waren Schule und Stadt nun von dem Spielverderber befreit, doch das Leben wurde nicht besser. Die Freunde machten sich klar, dass Belikow nicht alleine war. Wieviele wie ihn wird es noch geben!

Der Mensch im Futteral war Belikow, weil er immer eingepackt ging und alles in eine Hülle steckte und überhaupt sich das Leben vom Hals hielt, indem er in einem Korsett von Regeln und Verboten existierte. Viele Menschen bei uns leben in einem Raster aus Zahlen und Fakten oder auf andere Weise eingehüllt: im gepolsterten Sechszylinder, im Eigenheim am Fernseher, mit dem Bewusstsein am Monitor des Computers oder am Display des Smartphones.

Klar waren für ihn nur die Verordnungen und Zeitungsartikel, in denen etwas verboten wurde. … In einer Genehmigung aber, in einer Erlaubnis verbarg sich für ihn immer etwas Zweifelhaftes, etwas Unausgesprochenes und Unklares. 

Belikow raunte dann immer: ›Wenn da nur nichts passiert!‹ Viele Menschen sind so, auch hier und heute. Der ganze Corona-Wahnsinn gedieh auf der Befriedigung, gegen das böse Virus und den gefährlichen Mitmenschen Regeln und Verbote zu haben, statt mitdenken zu müssen. Auch wenn es besser aussah, wurde die Gangart verschärft, denn Erleichterungen bringen immer Befürchtungen mit sich: Wenn da nur nichts passiert! Doch dieser Gedanke könnte jede einzelne Unternehmung begleiten, und wer sicher leben will, lebt am besten auf kleinster Flamme, aber was ist das dann?

In den Firmen haben viele den Chef als Über-Ich im Kopf und das Verbotene wie eine Bibel in sich. Sie sagen dir immer, was nicht geht, bis du keine Lust mehr hast, dich zu wehren und selber zum Schäflein wirst.

»Das ist’s ja eben«, sagte Iwan Iwanytsch und zündete sich eine Pfeife an.
»Wieviel wird es noch geben!« wiederholte Burkin.

 

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