Schau nicht zurück

»Es ist Zeit, sagt der Wirt, die Glocken läuten schon. Aber schauen Sie nicht zurück!« So endet das Buch Späte Gäste von Gertrud Leutenegger, einer 1948 in Schwyz geborenen Autorin. Erst im vergangenen Jahr erschienen. Sehr gut.

SDC10460Die Erzählerin strolcht in einem alten Gasthof eines Tessiner Bergdorfes herum, und dabei geht es vor allem um ihre Beziehung zu dem Architekten Orion, der wegweisende Pläne für international bekannte Stätten entwarf, aber das Pech hatte, dass die Welt seine Genialität nicht erkannte. Zuweilen setzt er ein gescheitertes Modell nachts auf ein Schifflein, setzt es in den Bach und zündet es an, dass es als Fanal davontreibt. Was für ein Bild.

Oder er trauert, indem er trinkt, Flaschen rollen lässt und traurige Lieder zur Gitarre singt. Von Orion hat die Erzählerin ein Kind. Dann stirbt er, wird bestattet, und sie versucht, sich von dem Ort loszumachen. Aber schauen Sie nicht zurück! mahnt der Wirt.

Das hat mich beschäftigt. Denn heute werden gern absolute Wörter gesteigert, und Begriffe werden zergliedert und wörtlich genommen. Man meint, erläutern zu müssen, was man früher stehenlassen konnte. Jemand könnte sagen: Warum sollte ich nicht zurückschauen? Es war meine Vergangenheit, sie gehört zu mir. Andere würden erwähnen, dass man auch von der Vergangenheit zehren kann, sie hilft einem.

Doch das ist nicht gemeint. Jeder Begriff hat seine Aura und sagt mehr als die schlichte Wortbedeutung. Die Frau von Lot drehte sich beim Abmarsch um und erstarrte zur Salzsäule. Orpheus drehte sich im Jenseits um und verlor Eurydike. Diese Episoden sind nur metaphorisch zu nehmen; nicht zurückschauen sollen heißt: Richte deine Energie auf die Zukunft, trauere dem Vergangenen nicht nach, grüble nicht! Nimm es hin und geh weiter! Was war, das war und ist nicht mehr zu ändern. Du schadest dir, wenn du im Gestern lebst.

Ich sagte kürzlich: Corona ist keine tödliche Krankheit. Jemand gab zurück: Für einige schon. Richtig, aber die Sprache ist eben ungerecht und trifft pauschale Aussagen. Corona ist nicht die Pest. Wenn ich immer korrekt sein wollte, müsste ich zu sprechen aufhören. Das mit der correctness fing vor langer Zeit an und beginnt nun, den Dialog zu stören. Ich will reden, wie ich es tue und habe keine Lust, mich immer rechtfertigen zu müssen.

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.