Abschluss und Neubeginn

Nicht nur die Krimis bringen den Tod zur Sprache, von dem sonst niemand spricht, sondern auch manche Bücher. Zwei Romane, die ich unlängst gelesen habe, sind gute Beispiele dafür. Es waren Accabadora von Michela Murgia (2012) und Die Lügen der Frauen von Ljudmila Ulitzkaja (2005). Gute Bücher, nicht zu lang und nicht zu schwer: Das liest man gut stückweise an der Sonne auf dem Balkon. 

Das Buch von Michela Murgia (1972 geboren) spielt in einem abgeschiedenen Dorf auf Sardinien, das von Frau Ulitzkaja (1943 geboren) in Moskau. Mal nicht die üblichen Schauplätze und von Frauen geschrieben, das ist wichtig.

Die Accabadora Bonaria Urrai hat einen Schlaganfall erlitten. Ihre Pflegetochter Maria ist zurückgekommen vom Festland und erlebt das Dahinsiechen ihrer Stiefmutter mit, das sich über ein Jahr hinzieht, bis die Sterbende in Agonie verfiel. Sie war noch bei Bewusstsein, konnte sich aber nur mehr mit den Augen verständlich machen. Bald fing sie an zu winseln und zu schreien.Sie war nur noch ein Gerippe, aber sterben konnte sie nicht.

In dem sardischen Dorf Soreni, so lesen wir, konnten nur Schutz oder Schuld den Tod hinauszögern. Es geht hier um einen Tod, der vor der Tür steht, der unvermeidbar ist … und nicht eintreten will. Etwas hindert die Todkranke daran, zu gehen. Maria entfernt alle Heiligenbilder und christlichen Objekte: Vielleicht ist ihr Schutz zu dominant? Oder Bonaria hat noch eine Rechnung offen. Verzeihung ist nötig, um sie zum Gehen zu bewegen (denn letztlich muss die Sterbende dazu bereit sein und sich gehen lassen).

»Ihr leidet an etwas, das Ihr getan habt, Tzia.« Bei diesen Worten schloss Bonaria die Augen und tat, als schliefe sie, doch Maria glaubte keine Sekunde daran. … »Ihr dürft nicht gehen, weil Ihr eine unbeglichene Schuld habt, doch Ihr allein kennt sie.«

Maria ahnt diese Schuld und bittet einen jungen Mann, Bonaria zu besuchen. Und richtig, kurz nach dem Weggang des Besuchers, der ihre schlaffe Hand streichelte und ihr verzieh, stirbt sie.

Die Lüge der Frauen ist ein heiterer Roman. Shenja leitet in Moskau einen Verlag, ist neugierig und hyperaktiv, dabei sehr fürsorglich. Viele Freundinnen weinen sich bei ihr aus (andere erzählen ihr dramatische Geschichten und belügen sie). Irgendwie wrd sie benutzt, und gegen Ende des Buches geht es einem selber auf den Geist, und man atmet auf, dass Shenja zu einem Literaturkongress nach Berlin fliegen wird. Etwas Pause für die Arme. Auf dem Weg zum Flughafen passiert der Unfall: Ein rotes Auto rammt sie, Shenja ist schwer verletzt, fütchterlich zugerichtet und gelähmt.

Das hätte man nicht erwartet. Die Mutmacherin sagt plötzlich: »Ich bin gar nicht mehr richtig da.« Und Lilja, unerhört, stellt sie als Lügnerin hin: Sie habe ihr etwas vorgemacht. Die Mutmacherparolen seien nicht ernst gemeint gewesen; jetzt, wo es Shenja schlecht gehe, benehme sie sich wie alle anderen. Shenja ist von diesen anderen Vampiren ausgesaugt und als seelischer Mülleimer benutzt worden und meint lange, sie müsse ihren unbrauchbaren Körper über die Balkonbrüstung wuchten. Und dann wird sie noch beschimpft! Sie findet jedenfalls ins Leben zurück und sagt: »Wir fangen doch jetzt neu zu leben an.« Doch schon wieder denkt sie an ihre To-do-Listen, und man wünscht ihr, dass sie Distanz hält zu den Vampiren. Auf neue Art zu leben ist schwerer, als einfach zu sterben.

 

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