Zwei Herzen im Gleichtakt

Bestechend, wie Joseph Roth, von dem wir den heiligen Trinker hatten, das Aufflammen der Liebe beschreibt, wenn zwei Körper voneinander angezogen werden, weil die Seelen zueinander gefunden haben. Der folgende Auszug ist aus der Erzählung Stationschef Fallmerayer

Vor einigen Jahren hat Adam Fallmerayer die Gräfin Walewska kennengelernt. Dann bricht der Krieg aus, er wird einberufen und zum Oberleutnant befördert, als er wieder auf die Walewska trifft. In seinem Urlaub zieht er in deren Haus und isst jeden Tag mit seiner Angebeteten, deren Mann im Ausland lebt.

In der Nacht schlief er nicht, schlief er ebensowenig, wie vor Jahren daheim, im Stationsgebäude, während der sechs Tage, an denen die Gräfin über ihm, in seinem Zimmer, genächtigt hatte. Auch heute ahnte er sie in den Nächten über sich, über seinem Haupt, über seinem Herzen.

womanEines Nachts, es war schwül, ein linder guter Regen fiel, erhob sich Fallmerayer, kleidete sich an und trat vor das Haus. Im geräumigen Treppenhaus brannte eine gelbe Petroleumlaterne. Still war das Haus, still war die Nacht, still war der Regen, er fiel wie auf zarten Sand, und sein eintöniges Singen war der Gesang der nächtlichen Stille selbst. Auf einmal knarrte die Treppe. Fallmerayer hörte es, obwohl er sich vor dem Tor befand. Er sah sich um. Er hatte das schwere Tor offengelassen. Und er sah die Gräfin Walewska die Treppen hinuntersteigen. Sie war vollkommen angezogen, wie bei Tag. Er verneigte sich, ohne ein Wort zu sagen. Sie kam nahe zu ihm heran. So blieben sie, stumm, ein paar Sekunden. Fallmerayer hörte sein Herz klopfen. Auch war ihm, als klopfte das Herz der Frau so laut, wie das seine ― und im gleichen Takt mit diesem. Schwül schien auf einmal die Luft geworden zu sein, kein Zug kam durch das offene Tor. Fallmerayer sagte: »Gehen wir durch den Regen, ich hole Ihnen den Mantel!« Und ohne eine Zustimmung abzuwarten, stürzte er in sein Zimmer, kam mit dem Mantel zurück, legte ihn der Frau um die Schultern, wie er ihr einmal den Pelz umgelegt hatte, damals, an dem unvergesslichen Abend der Katastrophe, und hierauf den Arm um den Mantel. Und so gingen sie in die Nacht und in den Regen.

Sie gingen die Allee entlang, trotz der nassen Finsternis leuchteten albern die dünnen schütteren Stämme, wie von einem im Innern entzündeten Licht. Und als erweckte dieser silberne Glanz der zärtlichsten Bäume der Welt Zärtlichkeit im Herzen Fallmerayers, drückte er seinen Arm fester um die Schulter der Frau, spürte durch den harten durchnässten Stoff des Mantels die nachgiebige Güte des Körpers, für eine Weile schien es ihm, dass sich ihm die Frau zuneige, ja, dass sie sich an ihn schmiege, und doch war einen hurtigen Augenblick später wieder geraumer Abstand zwischen ihren Körpern. Seine Hand verließ ihre Schulter, tastete sich empor zu ihrem nassen Haar, strich über ihr nasses Ohr, berührte ihr nasses Angesicht. Und im nächsten Augenblick blieben sie beide gleichzeitig stehn, wandten sich einander zu, umfingen sich, der Mantel sank von ihren Schultern nieder und fiel taub und schwer auf die Erde ― und so, mitten in Regen und Nacht, legten sie Gesicht an Gesicht, Mund an Mund und küssten sich lange.  

 

∅ Ø Ø

2021-04-12-0001Einmal (1983) bin ich zu dem entlegenen Friedhof Thiais gefahren, auf dem er bestattet ist. Na ja, entlegen: Ich lese, dass Thiais 7 Kilometer vom Zentrum der Stadt entfernt ist. Mit dem Rad ginge das schnell. Ein Beamter versorgte mich mit dem Lageplan. Das Grab eines Individuums auf einem Riesenfriedhof zu finden, ist eine Unternehmung. Hoffentlich geht es im Jenseits schneller. Ich denke angestrengt an jemanden — und schon steht er vor mir. So stelle ich mir das vor.

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