Was übermorgen geschah

Marguerite Yourcenar (1903-1987) schrieb in ihrem Buch Quoi? L`Éternité über das Leben ihres Vaters Michel. (Auf Deutsch heißt es Liebesläufe.) Klarsichtige Sätze und Passagen stehen darin, es handelt sich bei der Autorin um eine echte Dichterin. Bis in ihre letzten Lebenstage hinein schrieb sie an dem erwähnten Buch. Ihr Vater Michel liebte Autos damals im Jahr 1904, und nun sehen wir, was die Yourcenar darüber schreibt.

Wir haben vergessen, welches Wunder die Erfindung des Automobils für die Menschen der Jahrhundertwende gewesen ist. (…) Alle machen 011(jedoch) den Fehler, dass sie nur an die Erfolge von heute und an den Profit von morgen denken, niemals an übermorgen oder an das nächste Jahrhundert. (…) Michel hat nicht vorausgesehen, dass die Autos im Stau stecken, die Straßen alljährlich ebensoviele Opfer an Verletzten und Toten fordern würden wie ein Bürgerkrieg, dass die Abgase unsere Lungen vergiften, den Stein zersetzen und die Bäume töten würden, nicht die Versklavung der Welt durch die Ölförderstaaten, die Verschmutzung der Meere durch Bohrinseln und die tödliche Ölpest. (…)

Weder Marcel, der mit Albertine in der Normandie spazierenfährt, noch Michel, der über die Straßen des Départements du Nord rast, ahnen, dass der »Fortschritt im Verkehrswesen«, noch verheerender als zwei Kriege, die schönen Pappeln und die schönen Ulmen an den Landstraßen Frankreichs, die beide so sehr geliebt haben, zu Fall bringen würde, damit die Raser mehr Platz zum Überholen hätten.

Sie wissen auch nicht, dass diese köstliche Freiheit, haltzumachen, wo immer man dazu Lust hat, auf wenig befahrenen Straßen Orte zu erreichen, die man nicht so nah glaubte, binnen kurzem umschlagen sollte in das Diktat der Autobahn, dem man nur an gesetzlich bestimmten, lang vorher durch Schilder angekündigten Stellen entrinnen kann, und wo grüne und rote Signale den Verkehr regeln wie früher an den Bahnstrecken. Noch ist ihnen nicht aufgegangen, mit welcher befremdlichen Leichtigkeit alle von Menschenhand geschaffenen Dinge alsbald auf das gleiche hinauslaufen.

CarJam

 

Wie läuft das ab? Ein Wunderwerk wird erfunden, das erst nur den Liebhabern und Wohlhabenden zur Verfügung steht und von der Masse abgelehnt oder nicht gekannt wird. Dann wird das Ding richtig entdeckt und der Masse zur Verfügung gestellt, und da man Geld damit verdienen kann, stürzen sich alle darauf. Die Erfindung wird vervollkommnet und über jede Grenze hinaus vorangetrieben, in den Irrsinn hinein. Es gibt kein Halten mehr. Am Ende hat das Geld die schöne Erfindung zerlegt und ausgesaugt, die nur noch ihr eigener Schatten ist. Beispiele: Pop- und Rockmusik; das Internet.

Illustration: Meine Mutti 2017 im Karlsruher Automuseum vor einem DKW F 11, so einen hatten wir mal! Und: ein Stau. Irgendwo. Könnte überall sein.

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