Rückkehr ins Leben (2): Wer will ihn?

Der Glöckner von Notre Dame ist bekannt, geschrieben von Victor Hugo (1802-1885). Sehr opulent geschildert, bis Seite 195 hielt ich durch, denn das Drama deutet sich schon an, und darauf hatte ich keine Lust. Doch eine Episode vom Beginn erinnerte mich lebhaft an den manipogo-Beitrag vom März über die Menschen, die nicht hingerichtet wurden. Hugo hat eine Version dazu, die ich noch nicht kannte.

Der arme Dichter Pierre Gringoire stolpert verzweifelt und hungrig durch die Straßen von Paris. Wir schreiben das Jahr 1482. Kein Mensch hörte seinem öffentlich aufgeführten Theaterstück zu, und wo er schlafen soll, weiß er auch nicht. Endlich landet er im übel beleumundeten Viertel der Bettler, dem Hof der Wunder, wohin sich am Tag niemand traut und in der Nacht schon zwei Mal keiner. Gringoire wird umringt und festgehalten, der regierende Bettlerkönig verurteilt ihn dazu, sein Können als Taschendieb zu zeigen. Doch der Dichter versagt.

Clopin Trouillefou, der König, ruft aus:  »Hebt den Kerl auf und hängt ihn auf der Stelle auf!« Der Verurteilte muss einen Schemel besteigen, und eine Schlinge wird ihm um den Hals gelegt. Drei Schergen bereiten alles vor, ein Händeklatschen würde genügen, und Gringoire träte in der nächsten Sekunde ab wie ein Schauspieler in einem seiner Stücke. Doch Clopin fällt noch etwas ein.

»Einen Augenblick«, sagte er, »ich habe etwas vergessen. Es ist ja bei uns Brauch, keinen Mann zu hängen, ohne vorher zu fragen, ob es eine Frau gibt, die ihn haben will … Das ist deine letzte Rettung, Kamerad. … hallo, ihr Weiber und Weibchen, ist eine unter euch, Hexe oder Katze, eine Hure, die diesen Hurenjäger hier haben will?«

Das alte Zigeunergesetz. Drei Frauen wagen sich aus der Menge hervor. Doch der ersten ist der Todgeweihte zu arm, der zweiten zu dürr, und die dritte sagt, wenn sie das täte, täte sie ihr Liebhaber verprügeln. Er habe wohl Pech, stellt der König fest und fragt noch einmal: Will ihn keine?

»Na? Keine? zum ersten … zum zweiten … und … zum … dritten!« Dabei drehte er sich nach dem Galgen um und nickte mit dem Kopf.

Nun muss etwas geschehen. Ein Auftritt wie in den Stücken Gringoires, wo ist er?

DSCN0555In diesem Augenblick erhob sich unter den Rotwelschen ein Ruf: »Esmeralda! Esmeralda!« (..)
Die Menge machte eine Gasse frei und ließ eine makellose, strahlende Gestalt durch.
Es war die Zigeunerin. (…)
Das eigenartige Geschöpf schien durch seinen Zauber und seine Schönheit seine Herrschaft sogar im Hof der Wunder auszuzüben. Hinter ihr schlossen sich ohne Gedränge die Reihen der Landstreicher beiderlei Geschlechts, und ihre brutalen Gesichter erhellten sich bei ihrem Anblick. Leichtfüßig näherte sie sich dem Unglücklichen. Die hübsche Djali folgte ihr. Gringoire war mehr tot als lebendig. Schweigend betrachtete sie ihn eine Weile.
»Ihr wollt diesen Mann hängen?« fragte sie Clopin ernst.
»Ja, Schwester«, erwiderte der König von Thunes, »außer wenn du ihn zum Mann nimmst.«
Sie machte wieder ihren hübschen Schmollmund mit der Unterlippe.
»Ich nehm‘ ihn«, sagte sie.
Gringoire war nun fest davon überzeugt, alles, was er seit heute morgen erlebt, habe er nur geträumt, und dies hier sei die Folge davon. 
Der Umschwung war aber auch zu krass, wenn auch schön.
Man löste den Knoten in seinem Nacken und hieß den Dichter vom Schemel steigen. Er musste sich setzen, weil seine Erregung zu stark war.
Der Herzog von Ägypten brachte wortlos einen irdenen Krug.
Die Zigeunerin bot ihn Gringoire dar.
»Werft den Krug zu Boden«, sagte sie zu ihm. Der Krug zerbrach in vier Stücke.
»Bruder«, sprach daraufhin der Herzog von Ägypten und legte ihm seine beiden Hände an die Stirn, »jetzt ist sie deine Frau. Schwester, er ist dein Mann. Auf vier Jahre. Nun geht.«

 

Wie heute an Pfingsten der Heilige Geist auf die Apostel, so kam Esmeralda zu Pierre Gringoire. In dieser Zone des Dunkels muss sie wie eine göttliche Sendbotin wirken, die ihr inneres Licht mitbringt. Sie holt ihn vom sicher geglaubten Tod herab auf die Erde, und hier ist das Erlösungs- und Erleuchtungswerk umgekehrt: Sie muss den Mann der Bühne erden und ihm das reale Leben zeigen. Spiritus und Materie müssen sich die Waage halten. Die Seele braucht den Körper, die Kerze das Wachs, um strahlen zu können. Und man muss wissen, wohin man sein Licht schickt. Gringoire schrieb für das korrupte verblendete Königshaus; vielleicht war das falsch. Victor Hugo schildert ihn jedoch in der Folge, so erfahren wir bei Wikipedia, als Opportunisten, der seine Retterin verrät. Ich würde ihn ein zweites Mal retten und zum Dichter der Verbannten und Entehrten machen.

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